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"Judensau" in Wittenberg "Judensau" in Wittenberg: Diskussion um antisemitisches Relief geht weiter

Von Kai Agthe 30.01.2017, 09:00
Ein Relief sorgt nach Jahrhunderten für Diskussionen: die Judenverspottung an Wittenbergs Stadtkirche
Ein Relief sorgt nach Jahrhunderten für Diskussionen: die Judenverspottung an Wittenbergs Stadtkirche Thomas Klitzsch

Wittenberg - Nachdem er das antisemitische Schmährelief an der Wittenberger Stadtkirche, die sogenannte „Judensau“, gesehen hatte, habe er erst im Schatten von St. Marien geweint und dann, um seine Gefühle in Worte zu fassen, ein Klagelied geschrieben, sagte Richard Harvey am Freitag. Zurück in England habe er eine Petition aufgesetzt und im Internet veröffentlicht, in der er fordert: „Remove the Wittenberger Judensau!“ (Die Wittenberger Judensau entfernen!). Das Online-Begehren, das seit August vergangenen Jahres nicht nur in der Lutherstadt für Diskussionen sorgt, hätten bislang 6.000 Menschen unterzeichnet.

Das mittelalterliche Bildmotiv der „Judensau“ ist noch in etwa 30 Orten Mitteleuropas, vor allem an Kirchen und öffentlichen Gebäuden zu finden - am häufigsten in Deutschland. Es handelt sich um eine ebenso obszöne wie verhöhnende und ausgesucht demütigende Darstellung. In Wittenberg sind die Forderungen, das judenfeindliche Sandsteinrelief von der Stadtkirche, Martin Luthers einstiger Predigtkirche, zu entfernen, nicht neu, doch scheinen sie nun, kurz vor dem Reformationsjubiläum 2017, zuzunehmen. Und sie finden ihren Weg auch in die Medien, etwa befasste sich Anfang August die Leipziger Volkszeitung mit der Petition des in London lebenden Theologen jüdischer Herkunft, Richard Harvey. Auch die überregioganle Frankfurter Allgemeine thematisierte den Streit jetzt im Feuilleton.

Auf Einladung der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt war der englische Theologe Harvey abermals nach Wittenberg gekommen, um zu erklären, warum er verlange, dass das mittelalterliche Relief an der Südostecke der Stadtkirche abgenommen werden soll. Das Interesse an der von Alf Christophersen, dem stellvertretenden Akademieleiter, unaufgeregt moderierten Podiumsdiskussion war entsprechend groß, der Saal in der Akademie am Schlossplatz bis auf den letzten Platz gefüllt.

Warum sorgt ein altes Sandsteinrelief für solche Aufregung?

Mit auf dem Podium saßen neben Richard Harvey als Diskutanten Landeskonservatorin Ulrike Wendland vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Marcus Funck vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und Ulrich Hentschel, seines Zeichens ehemaliger Studienleiter für Erinnerungskultur an der Akademie der Nordkirche in Hamburg.

Doch warum sorgt ein Sandsteinrelief, das auf den Anfang des 14. Jahrhunderts datiert wird, nach 700 Jahren für solche eine Aufregung in der Lutherstadt?

„Judensau“ in Wittenberg als Verhöhnung einer Minderheit

Das in acht Metern Höhe angebrachte Relief, das damit schon der Aufmerksamkeit aller, die es nicht kennen, entzogen ist, ist eine in Stein gehauene, christliche Verunglimpfung der jüdischen Mitbürger und ihrer Religion. Zu sehen ist ein Wildschwein, an dessen Zitzen mehrere Menschen saugen, die durch spitze Hüte als Angehörige des jüdischen Glaubens ausgewiesen sind. Den Schwanz des Schweines hält ein Mann, der als Rabbiner gedeutet wird, in die Höhe, um dem Tier in den Anus zu blicken. Dass es schon zur Zeit seiner Anbringung nicht nur als bösartige Karikatur, sondern als Verhöhnung der religiösen Minderheit gedacht war, wird klar, wenn man weiß, dass das Schwein laut Thora, dem heiligen Buch des Judentums, als unrein gilt.

Auf Initiative der evangelischen Stadtkirchengemeinde in Wittenberg wurde dem Schmähbild, der mittelalterlichen „Judensau“ an der Außenwand der Kirche, ein Mahnmal entgegengestellt. Seit 1988 erinnert eine Bronzeplatte des Bildhauers Wieland Schmiedel im Pflasterbereich an die Opfer der Nationalsozialisten. Dennoch kam es immer mal wieder zu Forderungen nach einer Abnahme des Schandbildes. Über die „Gedenkkultur an der Stätte der Mahnung und welche Ausblicke denkbar sind“, solle am 27. Januar in der Evangelischen Akademie gesprochen werden.

Nein, er verlange nicht die Zerstörung der Reliefplastik, sondern vielmehr deren Abnahme und die Suche nach einem Ort, wo sie, in Verbindung mit erklärenden Worten zu seiner Geschichte, gezeigt werden könne, sagte Harvey.

Richard Harvey ist kein christlicher Eiferer

Er sprach ruhig und überlegt. Wenn seine Worte übersetzt wurden, legte sich ein mildes Lächeln auf seine Lippen. Nein, dieser Richard Harvey ist kein christlicher Eiferer, wohl aber ein Mann mit religiösen Prinzipien. Und die verbieten es ihm, zu der Verunglimpfung zu schweigen, die sich an der Wittenberger Stadtkirche zeige, so Harvey.

Umso mehr, da er sich als Theologe vorstellte, der Christ dem Glauben nach, der Herkunft aber Jude sei. Sein Urgroßvater habe Deutschland verlassen, sein Großvater den deutschen Nachnamen in „Harvey“ anglisieren lassen, um die Familie in England zu assimilieren. Vor seinem jüdisch-christlichen Hintergrund und seinem religiösen Gewissen habe er angesichts der Wittenberger Judenverspottung nicht schweigen können: „An der Mauer der Kirche ist etwas, das den Namen Gottes und seines Volkes Israel beleidigt.“

Schon vor 30 Jahren wurde der „Judensau“ etwas entgegengesetzt

Doch bereits vor 30 Jahren hat man dem antisemitischen Relief etwas entgegengesetzt. Daran erinnerte Friedemann Ehrig, der in den 1980er Jahren zum Gemeindekirchenrat von St. Marien gehörte, eingangs. Am 11. November 1988, dem Tag der Erinnerung an die NS-Pogrome, wurde unterhalb des Reliefs eine Bodenplastik des Künstlers Wieland Schmiedel gleichsam als Kontrapunkt eingeweiht. Umgeben ist das Bronze-Relief von einem Text des Berliner Dichters Jürgen Rennert, der sich bereits zu DDR-Zeiten für die christlich-jüdische Aussöhnung einsetzte.

Vermutlich wäre das mittelalterliche Relief damals unbeachtet geblieben, wenn die Stadtkirche nicht im Umfeld von Martin Luthers 500. Geburtstag 1983 saniert worden wäre. Die Aufmerksamkeit für die buchstäblich aus dem Blick geratene Darstellung der Judenverspottung – die wegen der Ähnlichkeit ihrer Figuren mit denen des Westlettners im Naumburger Dom damals der Schule des Naumburger Meisters zugesprochen wurde – sei damit quasi „herbeirestauriert“ worden, so Ehrig.

Hoher Zeugniswert trotz Bosheit

Ulrich Hentschel verlangte in Übereinstimmung mit Richard Harvey, die Reliefplastik abnehmen und an einem noch zu bestimmenden Ort „in der Nähe der Kirche“ anbringen zu lassen sowie mit Texten, die die Darstellung historisch einordnen, zu versehen. Die Bodenplastik allein reiche als Erklärung nicht aus, weil sie auch nicht auf Luthers Antisemitismus eingehe, so Hentschel. Ähnlich argumentierte Marcus Funck: Die Plastik bedürfe dringend der Erklärung. Um das angemessen leisten zu können, sollte das interreligiöse Gespräch gesucht werden.

Allein auf weiter Flur stand Ulrike Wendland, die als Landeskonservatorin daran erinnerte, dass „Denkmale auch in ihrer Bosheit einen entscheidenden Zeugniswert haben“. Um Denkmale oder Teile von diesen zu entfernen, brauche es „sehr schwerwiegende Gründe“. Wendland bezweifelte deshalb, ob es „richtig und legitim“ sei, die Darstellung der Wittenberger Judenverspottung zu entfernen.

Da „Judensau“-Darstellungen an gut 30 Kirchen in Deutschland und Europa zu finden sind, sollte die Diskussion in Wittenberg mit viel Umsicht fortgesetzt werden. (mz)