Judasevangelium wirft Fragen auf
Hamburg/dpa. - Als der Text des Judasevangeliums 2006 in den USA der Weltöffentlichkeit präsentiert wurde, fand er sogleich große Aufmerksamkeit.
«Das Evangelium des Verräters» ist jetzt der Titel der deutschen Übersetzung einer detailreichen Analyse und historischen Einordnung des Textes durch die Religionswissenschaftlerin Elaine Pagels (Princeton University, USA) und die Kirchenhistorikerin Karen L. King (Harvard Divinity School, USA).
Judas Iskariot, der in die Geschichte des Christentums eingegangen ist als der Jünger, der Jesus für dreißig Silberlinge der feindlichen jüdischen Obrigkeit und damit der Hinrichtung durch die Römer auslieferte, ist in dem um das Jahr 150 von einem Unbekannten in griechischer Sprache verfassten Evangelium Jesu engster Vertrauter.
Die amerikanischen Wissenschaftlerinnen sehen in dem in Ägypten entdeckten, 26 Seiten umfassenden Papyrusmanuskript aus dem 4. Jahrhundert - Abschrift einer koptischen Übersetzung des Evangeliums - vor allem ein Zeugnis der innerchristlichen Kontroversen in den ersten Jahrhunderten nach Jesu Kreuzigung. Es ähnelt in mancher Hinsicht anderen Evangelien und Schriften, die schon vorher in Ägypten gefunden wurden. Die in ihnen geäußerten, Auffassungen wurden ihrerzeit von denjenigen Christen zum Schweigen gebracht, die schließlich den Kampf um die Rechtgläubigkeit gewannen.
Der aus Kleinasien stammende Christ Irenäus, von 200 an Bischof in Gallien, ließ in einer Schrift «Gegen die Häresien» (Irrlehren), in der er auch das Judasevangelium erwähnt, nur die vier Evangelien der Bibel gelten und verwarf alle anderen. Diese Abweichler betrachteten sich jedoch ebenfalls als Christen.
Eine besonders prononcierte Abweichung des Judasevangeliums von vorherrschenden Positionen betrifft die Hinrichtung bekennender Christen durch die Römer. Der Verfasser sah in den christlichen Autoritäten, die zum Martyrium aufriefen, nichts anderes als Mörder, die Jesu Lehre missverstehen. Er kritisiert nicht die Märtyrer, es erregt aber seinen Zorn, dass Christen in Jesu Tod und dem der Märtyrer ein Opfer sehen, das Gott nicht nur will, sondern auch befiehlt.
Viele heutige Christen dürften das Judasevangelum dort besonders interessant finden, wo von Judas' Verrat die Rede ist. Jesus fordert ihn da auf, «den Menschen zu opfern, der mich trägt». Jesus will hiermit über die Begrenzungen der irdischen Existenz hinaus in die Unendlichkeit, zu Gott, gelangen. Etwas später heißt es, dass einige der jüdischen Schriftgelehrten darauf lauerten, den zum Gebet in den Gastraum des Tempels gegangenen Jesus zu ergreifen - «sie fürchteten nämlich das Volk, weil er bei ihnen allen als Prophet galt. Und sie traten an Judas heran. Sie sagten zu ihm: 'Was tust du an diesem Ort? Du bis doch der Jünger Jesu.' Judas aber antwortete ihnen gemäß ihrem Willen. Darauf erhielt Judas ein paar Kupfermünzen. Er lieferte ihn an sie aus.»
Im Unterschied hierzu stellen die Evangelien der Bibel den Verrat als Initiative Judas' dar - wenn auch verschieden in den Details des ganzen Vorgangs.
Unerwähnt bleibt im Judasevangelium, dass Jesus verhaftet, vor Gericht gestellt, von den Römern zum Tode verurteilt wurde, von den Toten auferstand und in den Himmel auffuhr. Wie die Amerikanerinnen in ihrem Buch konstatieren, ist ohne das für den Verfasser des Judasevangeliums alles Notwendige gesagt, denn es sei Jesu Lehre, die ewiges Leben bringt, nicht sein Tod oder seine Auferstehung. Welchen Sinn hat also Jesu Tod? Die Antwort des Judasevangeliums ist die Stelle, an der Jesus von dem Opfer des Menschen spricht - für den Weg über die irdische Existenz hinaus zu Gott.
Dieser Teil des Evangeliums gibt nach Auffassung der Buchautorinnen einen Anstoß, die Darstellung von Judas in den biblischen Evangelien und viele weitere historisch ungenaue Details darin neu zu bedenken und zu korrigieren. Es sei diesen Evangelien weniger auf die Historizität angekommen als auf die moralische Lektion und die theologischen Anliegen, die sie übermitteln wollten.
Das Papyrusmanuskript wurde schon 1978 gefunden. Es geriet erst am Anfang des neuen Jahrhunderts in Wissenschaftlerhände, die dann die inzwischen stark beschädigten Fragmente mühsam restaurierten und den Text so nahe wie möglich gemäß seinem ursprünglichen Zustand rekonstruierten.
Elaine Pagels/Karen L. King
Das Evangelium des Verräters. Judas und der Kampf um das wahre Christentum
Verlag C.H. Beck, München
205 S., 19,90 Euro
ISBN 978-3-406-57095-7