Jakob Hein Jakob Hein: Alle Wege führen nach Haus
Halle/MZ. - Christiane Hein ist vierundfünfzig Jahre alt, da ruft sie ihre Söhne Jakob und Georg in die elterliche Wohnung in Berlin-Weißensee: Sie habe etwas mitzuteilen, das sich am Telefon nicht sagen lasse. Es war klar, dass das, was zu erfahren war, Folgen haben würde.
Die Söhne gehen auf die 30 zu; sie führen ihr eigenes Leben, trotzdem ist der Weg zu den Eltern noch immer der "Weg nach Hause". Am Wohnzimmertisch sagt Christiane Hein, dass sie bei sich selbst einen Knoten in der Brust ertastet habe, den die Ärzte verdächtig fänden.
Drei Lebensjahre bleiben Christiane Hein nach der ersten Krebsoperation: eine Zeit der sich erneuernden, nach außen hin flirrenden Normalität. Über diese Jahre legt ihr Sohn Jakob einen Bericht vor, vor allem aber über sein Leben mit seiner Mutter, das 1971 in Leipzig begann. Wobei ein Kind ja nicht "mit", sondern "von" seiner Mutter lebt. Sie ist das alles: die Gegenwart, deren Gehäuse, das Medium der Welterfahrung. Wo das Leben an Selbstverständlichkeit verliert, hört die Kindheit auf. Auch darüber schreibt Hein, dessen Welt mit der Krebs-Diagnose auf eine für ihn bislang unbekannte Art aus der Bahn geriet, um sich nach dem Tod der Mutter neu zu ordnen.
Ein Buch des Abschieds und der Ankunft also. Aber wie berichtet man öffentlich über das einem selbst Selbstverständliche, das ja die familiäre Herkunft ist? "Gedanken", schreibt Hein, "vor allem Erinnerungen, müssen nicht lange dauern, schließlich sind mir meine eigenen Gedanken besonders vertraut." Keine leichte Sache, daraus ein Buch zu machen. Hein gelingt es, indem er sich Zeit nimmt für das Nichtspektakuläre, das er als Alltag nachschreibt: Ausflüge, Einkäufe, Tischgespräche. Er verweilt im Verweilen und überrumpelt im Nachhinein das Erlebte nicht.
Das Gesehene und Gefühlte zeigt Hein, Gesten und Gerüche, die all diese Orte sinnfällig machen: Kindheitsküche und Großelternwohnung, die Arbeitsstätte der Mutter. Erinnerungen sind Selbstprotokolle und Hein, der in seinen Büchern "Mein erstes T-Shirt" und "Formen menschlichen Zusammenlebens" immer das Eigene mitverhandelt hat, vermag es, sich selbst zu zeigen, ohne dabei auszustellen.
Man geht durch dieses Buch wie durch ein altvertrautes, abgelebtes Treppenhaus, das seinen eigenen Geräuschen nachlauscht, von denen es ganz erfüllt ist. Hinter jeder Tür werden Personen sichtbar: der Vater des Autors zum Beispiel, der Schriftsteller Christoph Hein. Jeder in dieser Familie hat seinen eigenen Schreibtisch, an dem er gerne sitzt, und Jakob, der Jüngste, wird jeweils weiter gewunken, um selbst etwas zu Papier zu bringen. Worauf es ja auch hinausläuft. Hein Senior begreift sich als "Chronist", Christiane Hein war Dokumentarfilmerin, Jakob Hein, der als Arzt an der Charité arbeitet, ist literarisch ein Erwecker des Alltags.
Hein schreibt eine schmucklos schöne Prosa; er verwendet nur so viele Worte, wie für das, was er zu sagen hat, notwendig ist; da verläuft die Grenze zum Journalismus. Zeithistorisch sprechend ist das, was Hein über die Herkunft seiner Mutter berichtet, deren jüdischer Vater den NS-Staat nicht überlebte, deren nichtjüdische Mutter sich mit ihr verstecken musste. Hein zeichnet die haltlose DDR-Berliner Jüdische Gemeinde. Und er erzählt, wie jene Herkunft, die den Nazis Anlass zur Verfolgung gab, 2002 nicht ausreichte, seiner Mutter ein Grab auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee zu gewähren.
Jakob Hein: "Vielleicht ist es sogar schön", Piper Verlag, München, 165 S., 16,90 Euro.