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Im siebten Kreis der Hölle: «Nanking Requiem»

Von Sibylle Peine 12.11.2012, 16:46

Berlin/dpa. - Das Massaker von Nanking im Jahr 1937 gilt als eines der grausamsten Kriegsverbrechen. Mindestens 200 000 Chinesen soll die japanische Armee damals bei der Eroberung der Stadt massakriert haben. Schätzungsweise 20 000 Frauen wurden von der entfesselten Soldateska vergewaltigt.

Die Stadt wurde über Wochen geplündert und gebrandschatzt. Nun hat sich der chinesische Autor Ha Jin dieses heiklen Themas in seinem Roman «Nanking Requiem» angenommen.

Lange Zeit ignorierte der Westen aus unterschiedlichen Gründen dieses Verbrechen. Selbst in China war das Nanking-Massaker über Jahrzehnte kein großes Thema. Erst recht gab es in Japan einflussreiche Kreise, die das Ganze bagatellisierten. Erstaunlicherweise waren es dann ausgerechnet die Tagebücher eines deutschen Nationalsozialisten, die das Nanking-Massaker aus dem Dunkel der Geschichte holten.

John Rabe, Vertreter der Firma Siemens in Nanking, richtete zusammen mit anderen Ausländern in der belagerten Stadt eine Sicherheitszone ein, die Tausenden von Chinesen Asyl bot. Der «gute Nazi von Nanking» - bis dahin auch in Deutschland ein völliger Nobody - wurde vor allem durch einen Film 2009 schlagartig bekannt.

Im Mittelpunkt von «Nanking Requiem» steht allerdings nicht der von den Chinesen sehr verehrte John Rabe, sondern die amerikanische Missionarin Minnie Vautrin. Die Leiterin eines Mädchen-Colleges gehörte zu den wenigen Ausländern, die damals in der Stadt blieben. In unermüdlichem Einsatz versuchte sie, Tausenden von verzweifelten Frauen in ihrem College Schutz zu bieten, was allerdings nicht immer gelang. Hilflos musste sie manchmal mit ansehen, wie japanische Soldaten junge Mädchen verschleppten, um sie zur Prostitution zu zwingen. Auch wurde sie Zeugin unvorstellbarer Gewaltorgien.

Ihre Erlebnisse von Nanking verarbeitete Minnie Vautrin nie. Zurück in den USA, machte sie sich schwere Vorwürfe, litt an Depressionen und beging schließlich Selbstmord.

Ha Jin, der seit langem in den USA lebt und seine Bücher auf Englisch schreibt, erzählt die Geschichte aus Sicht einer fiktiven Figur. Die Chinesin Anling ist eine enge Mitarbeiterin von Minnie und erlebt die Schreckenstage an ihrer Seite. Auf die Weise bleibt der Erzähler immer hautnah an seiner Hauptfigur, ohne jedoch ganz in ihre Rolle zu schlüpfen. Der Autor hält sich sehr eng an die historischen Ereignisse, hat zahlreiche Augenzeugenberichte und vor allem die Tagebücher der Missionarin zurate gezogen. Ihm ist es wichtig, gegen das Vergessen anzuschreiben, hat er doch selbst in seiner Kindheit in China kaum etwas über das Nanking-Massaker erfahren.

Seine Heldin Minnie Vautrin spricht für Ha Jin, wenn sie ihrem Ärger über den fatalen chinesischen Hang zum Vergessen Luft macht: «Historische Ereignisse sollten wahrheitsgemäß dokumentiert werden, damit wir uns ohne Zweifel und Kontroversen an sie erinnern können.» Das ist sicherlich die Botschaft dieses Romans, der sich als historisches Dokument begreift.

So ist «Nanking Requiem» von großer Glaubwürdigkeit, doch diese Authentizität ist auch ein Problem. Die Aneinanderreihung unvorstellbarer Brutalitäten macht die Lektüre dieses Antikriegsromans oft zur Qual. Ha Jin lässt einem keine Zeit zum Atemholen, mit Ablenkungen wie eingestreuten Liebesgeschichten hält er sich erst gar nicht auf. Man würde sich wünschen, er hätte ein bisschen mehr Erbarmen mit den Lesern gehabt.

Ha Jin: Nanking Requiem. Ullstein Verlag, Berlin, 352 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-550-08890-2