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Ibrahim Böhme Ibrahim Böhme: Die Sphinx aus dem Saalekreis

Von CHRISTIAN EGER 30.11.2009, 18:12

HALLE/MZ. - Dass seine Eltern nach Frankreich geflohen seien, das Kind aber am Ort seiner Geburt zurückgelassen hätten.

Auch vom Geburtsland Frankreich war einmal die Rede. Sogar von Mexiko. Mit den Gesprächspartnern wechselten die Angaben. Manchmal innerhalb eines Gespräches. Mit dem Resultat, dass allgemein nur feststand, dass in Sachen Manfred "Ibrahim" Böhme nichts feststeht. Dass der Mann, der beinahe letzter DDR-Staatschef geworden wäre, der Fremde aus dem Wende-Off bleibt, in das hinein er 1999 mit seinem stillen Tod in Neustrelitz wieder entschwand.

Vier Decknamen

Nun ist der Mann mit den vier Stasispitzel-Decknamen wieder da. Im Auftrag der Robert-Havemann-Gesellschaft hat die Berliner Journalistin Christiane Baumann den Lebenslauf des Politikers ermittelt, der als erster Chef der DDR-SPD 1990 für das Amt des DDR-Ministerpräsidenten kandidierte.

Keine Belletristik, sondern die Prosa der Fakten bietet die Autorin: Sie begab sich auf Spurensuche, sie las Böhmes Nachlass, der in einem Auktionshaus angeboten worden war, kein Interesse fand und in der Havemann-Gesellschaft landete. Ohne Umwege geht es zur Sache, die das Leben Ibrahim Böhmes war.

Dieses Leben also begann nicht in Frankreich oder Mexiko, sondern am 18. November 1944 in Bad Dürrenberg, heute Saalekreis, eine Stadt zwischen Leipzig, Merseburg und Weißenfels: Dort wird Manfred Otto Böhme als Sohn von Anni und Kurt Böhme geboren. Der Maurer und KPD-Mann hatte 1939 in zweiter Ehe die aus der Tschechoslowakei stammende Anni geheiratet. Die stirbt 1947 und hinterlässt ihrem Mann fünf Kinder, von denen Manfred Otto das jüngste ist.

Das Kind wird zu einer Pflegefamilie in Bad Dürrenberg gegeben, um 1950 gelangt es in ein Kinderheim in Zeitz. Zu Beginn der ersten Klasse kehrt Manfred Böhme 1952 zu seinem Vater zurück. Der Junge besucht die Karl-Liebknecht-Oberschule in Bad Dürrenberg, absolviert eine Maurerlehre in den Leuna-Werken, wo er bis 1965 als Erzieher im Lehrlingswohnheim wirkt. 1962 mit 18 Jahren SED-Eintritt, 1965 erste Parteistrafe, weil er die SED-Position zu Havemann kritisiert. Böhme kündigt in Leuna, um in Greiz wieder aufzutauchen.

So weit, so normal - aber nur auf den ersten Blick. Der Jugendliche pendelt zwischen den Rollen als Oppositioneller und Muster-Genosse. Führen will er immer. Aufmerksamkeit braucht er im Höchstmaß. Kaum wird in der Schule der sowjetische Jugendroman "Timur und sein Trupp" gelesen, gründet Böhme einen solchen Trupp, den er anführt. Vor der Klasse spielt er Napoleon und Hitler. Eine Mitschülerin: "Das konnte er richtig gut". Im Lehrlingswohnheim hängt er einen anonymen politischen "Hetzbrief" gegen sich selbst aus, um von Diebstählen abzulenken, die er vorgenommen hatte. Die Selbstanzeige, um die Staatsmacht auf sich aufmerksam zu machen - das bleibt für ihn ein Handlungsmuster. Rätselhaft für Außenstehende: Böhme, die Sphinx aus dem Saalekreis.

Greiz, Neustrelitz, Ostberlin

In Greiz dient Böhme in der Bibliothek, bei der Post, in Jugendklubs. Seine Sympathie mit den 68ern in Prag trägt ihm erneut eine Parteistrafe ein - und das Interesse der Stasi. In dieser Zeit dient sich Böhme (erster Deckname "Drempker") dem Geheimdienst an. Plötzlich taucht Böhme als Kreissekretär des Kulturbundes in Greiz auf. Fortan berichtet er (Deckname "Bonkarz") ohne Rücksicht auf Verluste - unter anderen über den in Greiz ansässigen Dichter Reiner Kunze. Nach dessen Ausreise 1978 verliert die Stasi das Interesse an Böhme. Der wirft in Magdeburg DDR-kritische Flugblätter aus dem Zug, um sich selbst anzuzeigen. Nach der Untersuchungshaft ausgestattet mit neuer Legende (Deckname "Rohloff"), lässt ihn die Stasi in Neustrelitz laufen: am Theater, in der Bibliothek. Ab 1985 in Berlin, wo Böhme unter dem Decknamen "Maximilian" in die oppositionelle Szene eindringt. Plötzlich geht alles sehr schnell: Oktober 1989 Geschäftsführer der SDP, Februar Parteichef der DDR-SPD. Nach der Spitzelenttarnung im März 1990 sagt Böhme: "Ich bin zu keiner Zeit Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen. Ich habe niemanden bespitzelt."

Wer war der Mann, der sich ab 1979 Ibrahim nannte? Ein Spieler, ein Blender, ein Jäger, der ein Gejagter war. Ein autoritärer Charakter; den hat man entweder zu Füßen oder am Hals. Eine lächerliche Figur, noch bei der Lektüre der von ihm verfassten Gedichte: Böhme hielt sich doch tatsächlich für einen Dichter! Aber wie vieles war lächerlich in der DDR-Gesellschaft. Den für seine Biografie zentralen Satz gibt Böhme 1963 der SED zu Protokoll: "Gebt mir einen Auftrag"! Ein Haltloser, der Werkzeug sein wollte. Aber kein Zweck heiligt alle Mittel. Die Mittel, zeigt der Fall Ibrahim Böhme, zerstören am Ende jeden besseren Zweck.

Christiane Baumann: Manfred "Ibrahim" Böhme. Schriften der Havemann-Gesellschaft, Band 15. 193 S., mit Abb., 10 Euro.

Das Buch ist auch zu bestellen über:

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