1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Henning Mankell: Henning Mankell: «Keiner weiß, wie Afrika lebt»

Henning Mankell Henning Mankell: «Keiner weiß, wie Afrika lebt»

Von Andreas Hillger 16.07.2003, 19:09

Dessau/MZ. - Der Schmetterling hat sich hinter der Gardine gefangen und taumelt orientierungslos gegen das Fenster. Für einen Moment fesselt der Schlag seiner Flügel die Aufmerksamkeit, dann aber erzählt Henning Mankell im Dessauer Hotel von der Arbeit an einem neuen Stück, dessen Thema eine Recherche-Reise nach Sachsen-Anhalt nötig machte.

Vom Mord an dem Afrikaner Alberto Adriano hatte Mankell vor drei Jahren erstmals in Maputo gehört, wo er seit 1996 als künstlerischer Leiter des Avenida Theaters arbeitet. Das Verbrechen hatte Mosambik damals nicht nur erschüttert, weil es einen Landsmann traf - sondern auch, weil man den Osten Deutschlands noch immer als guten sozialistischen Partner im Gedächtnis hatte. Der Schwede Mankell hingegen fühlte sich von der Tat der drei alkoholisierten Jugendlichen auch an die Anfänge seiner "Wallander"-Serie erinnert, die 1989 mit einem Roman über Rassismus in einer ländlichen Region Schwedens begonnen hatte. Nun sah er sich in seiner Wahlheimat doppelt betroffen. Und der Auftrag, für das Stuttgarter Europa-Theatertreffen in diesem Jahr ein Stück zum Thema zu schreiben, kam eigentlich nur konsequent.

In Dessau hat er neben dem Leiter des Multikulturellen Zentrums, Razak Minhel, nun auch die Witwe des ermordeten Adriano getroffen. "Eine Schande" nennt er den Mangel an öffentlicher Hilfe für die Frau und ihre drei Kinder. Seiner Beobachtung nach wäre es für die Familie am besten, wenn sie sich andernorts eine neue Existenz aufbauen könnte. Doch dafür bräuchte sie eben jene öffentliche Unterstützung, die Mankell vermisst.

Natürlich, sagt Mankell, habe er bei seinen Gesprächen vor Ort nun kein "Dessau-Syndrom" erkennen können, das der Stadt wie ein Stigma anhafte. Aber er habe sich gerade angesichts der alltäglichen Ruhe jene Frage gestellt, die sich die Täter wohl selbst nicht beantworten könnten: Was treibt einen Menschen dazu, einen Mitmenschen totzutreten und dabei das ihm geraubte Brot zu kauen?

Mit solchen existenziellen Anfragen sind auch Mankells Leser vertraut, weil Gewalt in seinen Krimis stets Spiegel der Gesellschaft ist. Dass der bekennende Sozialist, der "für eine solidarische Gesellschaft zu sterben bereit" wäre, mit den Wallander-Romanen zum Millionär wurde, lässt ihn an seiner Idee von Gerechtigkeit nicht irre werden. Statt den Wohlstand zu genießen, lebt er in Mosambik sparsam und subventioniert lieber sein eigenes Theater. Seine dramaturgische Vorliebe für Alltags-Dokumente wird nun auch dem neuen Auftragswerk zugutekommen - obwohl im Text weder der Ort Dessau noch der Name Adriano explizit auftauchen sollen. Sogar auf die Inszenierung verzichtet er diesmal - und will statt dessen einige seiner Schauspieler aus Maputo für die Uraufführung empfehlen. Ob er den Mosambikanern allerdings eine vergleichbare Tat zutraut? Nein!

In solchen Momenten wird er zu jenem viel gefragten Anwalt Afrikas, der sein Plädoyer abrufbereit parat hat. "Jeder Europäer glaubt zu wissen, wie man in Afrika stirbt", sagt er dann, "aber keiner weiß, wie man dort lebt." Oder: "Die demokratischen Prozesse in Afrika haben gerade erst begonnen. Wer sie bereits jetzt für gescheitert hält, sollte sich an die Dauer ähnlicher Entwicklungen in Europa erinnern." Schnell wird da deutlich, wo er bei seiner Lebenshaltung "mit einem Fuß im Schnee und mit dem anderen im Sand" das Standbein findet. Aber diese Sätze sind auch gegen die eigene Verzweiflung angesprochen, die den 55-jährigen Vater von vier Kindern wie auch Wallander gelegentlich befällt.

Der letzte Ortstermin steht ihm an diesem Morgen noch bevor. Im Dessauer Stadtpark will Henning Mankell jene Stelle besuchen, an der Alberto Adriano getötet wurde. Der Schmetterling aber hat sich inzwischen selbst befreit. Es gibt immer noch Hoffnung, sagt Mankell.