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Erwin Geschonneck Erwin Geschonneck: Drei Küsse vor der Kurkapelle

Von Christian Eger 28.12.2006, 17:37

Berlin/MZ. - Dass er in Marxens Werken blättere, Bücher über Rühmann oder Putin lese. Dass er seufzen soll: "Der Kopp is klar, nur die Benecken woll'n nich mehr!" Dass er sich - toi, toi, toi - auf seinen 100. Geburtstag freue. Nur ob es ihn noch leibhaftig gibt, das blieb offen.

Stau vorm Fahrstuhl

Bis zum Mittwochabend in der Akademie der Künste zu Berlin. Zehn vor acht schließt sich vor der Fahrstuhltür in der zweiten Etage des Glashauses am Pariser Platz ein blickdichter Halbkreis von Fotografen. Akuter Geschonneck-Alarm. Während im von Einlassern bewachten Plenarsaal nebenan das Festpublikum mit einem länglichen Hörfunk-Feature eingeschläfert wird, steppt im Foyer sozusagen der Ostberliner Bär. Lokale Presse, Autogrammjäger, Regionalfernsehen, Obdachlose, die sich ein paar Bufett-warme Stunden versprechen. Großes Hallo, wenn sich die Fahrstuhltür öffnet und es ist doch nur ein lächelnder Akademie-Mitarbeiter zu sehen. Zehn nach acht beginnt der Halbkreis zu bröckeln, einzelne Fotografen laufen in den Plenarsaal über. Tatsächlich, der Coup gelingt: Zwölf nach acht schiebt Heike Geschonneck ihren 100-jährigen Mann, der - wie um sich vor den Kameras zu schützen - seine Hände hochreißt, durch den Hintereingang in den Saal.

Stehende Ovationen, Blumenstrauß-Geraschel (obwohl Geschonneck Schnittblumen nicht leiden kann), an Ellenbogen vorbei Stellplatzeinnahme zur Gratulation. Geschonneck sieht gut aus. Schwarz-weiß-gestreiftes Hemd, Halstuch, schwarzer Pullunder zur schwarzen Cordhose. Obwohl er im Rollstuhl sitzt, macht er eine aufrechte Figur. Das Gesicht blass, aber nicht pergamentig, die schlanken Hände weiß. In der rechten Hand hält der Jahrhundertmann eine ihm zugesteckte Zigarre, mit der linken ein paar Grüße auf Papier. Sind Geschonnecks Hände einmal frei sind, wandern sie flugs hoch zu seinen Schultern, um die Hände seiner Frau zu greifen, die hinter ihm steht. Er kommt nicht zu Wort, jedenfalls ist nichts davon zu hören. Nur einmal, als ihm ein Autogrammjäger die Zigarre aus der Hand nimmt, um einen dicken Filzstift hineinzudrücken, spricht er: "Damit wollen wir gar nicht erst anfangen". Was wiederum sehr für Geschonneck spricht.

Die Schauspielerin Inge Keller (83) - strahlend weißes Haar, graues Kostüm, mädchenhafte Lackschuhe - gehört zu den Ersten, die aufspringen, um nach dem Jubilar zu greifen. Gisela May, 82, folgt. Dann André Schmitz, Wowereits Kultursekretär: "Ganz Berlin liegt Ihnen zu Füßen", spricht er, was angesichts der augenfälligen Ostberliner-Dichte glatt gelogen ist.

Schon ergreift die PDS-Bundestagsabgeordnete Petra Pau das Wort, um ihrem "lieben Genossen Erwin" zu gratulieren. Es soll die längste zusammenhängende Ansprache (einschließlich eines Geschonneck-Zitates von 1990: "Kapitalismus ist Kapitalismus, Klassenkampf ist Klassenkampf") dieses Abends werden, der offenbar nur zwei Ziele hat: das Publikum zu nerven und den Jubilar nachhaltig zu verschrecken. Denn bei aller körperlichen Enge, ist dieser Abend ein Ereignis unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wenn nicht der Schauspieler Otto Sander von Westen herüber gekommen wäre, diese Akademie-Veranstaltung wäre nicht einmal ein ostdeutscher, sondern ein Ostberliner Kulturschaffenden-Abend gewesen.

Im Saal unter anderen die Publizistin Daniela Dahn mit Schriftsteller-Ehemann Joochen Laabs und Mutter Sibylle Gerstner, Theaterkritiker Ernst Schumacher, die Schauspieler Corinna Harfouch und Andreas Schmidt-Schaller, der Dichter Volker Braun und TV-Vorturner

Gerhard "Adi" Adolph ("Mach mit, mach's nach, mach's besser"), der die Kamerawärme genießt. Vielleicht sind die politischen Differenzen von vorgestern noch zu lebendig, um Kollegen der Geschonneck-Liga wie Manfred Krug oder Armin Müller-Stahl ins Haus zu locken.

Es ist ein Abend unter Ausschluss der Akademie. Theaterregisseur Thomas Langhoff, 68, spricht zum Auftakt herzlich, aber fahrig und viel zu kurz. Kein Akademie-Präsident. Auch gar kein Programm. Keine Reden. Stattdessen wird das Geschonneck-Hörfeature "Widerstand und Anpassung" eingespielt, ganz so, als wären private CD-Player heutzutage Mangelware.

Mitten auf den Mund

Es ist ein Abend unter Ausschluss der Politik. Offenbar muss man Ernst Jünger heißen, um als 100-Jähriger eines Kanzlerbesuches würdig befunden zu werden. Oder dem eines Kulturstaatsministers. So als ginge es hier um persönliche Vorlieben. Die protokollarische Nichtbeachtung dieses Geburtstages eines großen deutschen Schauspielers und Kommunisten, der sieben Jahre KZ überlebte, ist ein gesellschaftspolitischer Skandal.

Wäre da nicht die aus München angereiste Regine Lutz, Geschonneck-Kollegin aus Berliner-Ensemble-Tagen, dieser Abend wäre wie seelenlos verendet. Die 78-Jährige singt im Foyer Brechts "Pflaumenlied" und küsst ihren "Geschi" dreimal mitten auf den Mund. Dann übernimmt die Bolschewistischen Kurkapelle, die - von heiseren "Erwin, Erwin!"-Rufen unterbrochen - das Fest mit linksfolkloristischer Krawallkomik ins Aus schießt. Zehn nach neun schiebt Heike Geschonneck ihren Mann heraus aus dem Haus. In seinem Rücken dröhnt die Kurkapelle "Keine Nacht mit Wolf Biermann". Mit dieser Akademie aber auch nicht.