Erik Neutsch Erik Neutsch: Ein Mann ein Traum
Halle (Saale)/MZ - Da ist er also, der neue Neutsch. Und stilistisch ganz der alte: robust im politischen und ästhetischen Entwurf, der Satzbau oft kunstvoll verschlungen, so oft, dass es dem flüssigen Lesen nicht immer dienlich ist. Dafür sind die Dialoge klar und die Konflikte zuspitzend, Hintergründiges wird in Berichtsform in den Text montiert. Hier kann und will der Autor seine journalistische Vergangenheit niemals leugnen. Das wird die Anhänger seiner Prosa freuen. Das Thema des Buches ist, wen wollte es wundern, die DDR - wie sie geworden ist, wie sie hätte sein sollen, nein: Wie sie sein sollte, denn dieser Roman ist der wahrscheinlich letzte aus der ostdeutschen Republik, deren Ende die Handlung mit dem sechsten Band des Zyklus „Der Friede im Osten“ erst hätte erreichen und werten sollen. Doch dazu hat Erik Neutschs Kraft nicht mehr gereicht.
„Plebejers Unzeit oder Spiel zu dritt“
Gerade ein halbes Jahr ist es her, dass er starb. 1931 in Schönebeck an der Elbe geboren, war Neutsch spätestens mit dem 1964 erschienenen Roman „Spur der Steine“ berühmt geworden. Zwei Jahre später sollte die von dem Regisseur Frank Beyer besorgte Verfilmung mit Manfred Krug in der Hauptrolle des unangepassten Plebejers Hannes Balla in die Kinos kommen und wurde durch den inszenierten Protest der vermeintlich empörten Arbeiterschaft gleich nach der Premiere wieder verboten. Nicht so das Buch. Neutsch, der bekennende Marxist, war durch das Verbot des Filmes zwar quasi geadelt, nahm aber fortan eine eigenartige Zwischenstellung ein. Denn an seinem Bekenntnis zur DDR und zur SED, deren Funktionär er jahrzehntelang war, änderte sich nichts.
Wohl aber verstand Neutsch sich als einen konstruktiven Kritiker „in den Kämpfen unserer Zeit“, wie man damals gern floskelhaft umschrieb, wenn es knirschte im Gebälk des Staates. Der Autor nahm sich Missständen wie in der Volksbildung, in der Mitsprache der angeblich herrschenden Klasse bei politischen Entscheidungen, aber auch dem Verhältnis von Mann und Frau an, ohne jemals die Verhältnisse im Ganzen in Frage zu stellen. Das hatte er auch in „Spur der Steine“ nicht getan, aber die Arbeitswelt eben sehr präzise dargestellt. Das reizte Heiner Müller zu einer dramatischen Adaption des Stoffes. Aber auch „Der Bau“ wurde alsbald verboten.
Nun durfte man auf den fünften und letzten Band von Neutschs Epos „Der Friede im Osten“ mit Fug gespannt sein. Der vierte Roman war 1987 im Mitteldeutschen Verlag Halle erschienen, vor fast drei Jahrzehnten. Inzwischen ist viel Abstand zu den Idealen der DDR, wie Neutsch sie bis zuletzt hoch hielt, entstanden - aber auch zur Euphorie des Aufbruchs in die gesamtdeutsche Realität. Und tatsächlich hat der Autor, über Jahre durch Krankheit gebremst und hadernd mit einer Welt voller Opportunisten, wie er sie wohl sah, diesen Zeitgeist-Wandel gewiss mitgedacht, doch weitgehend außen vor gelassen, indem er mit seiner Erzählung zurück in die 1970er Jahre reiste.
Zentralfigur in „Plebejers Unzeit oder Spiel zu dritt“, so der Titel des rund 450 Seiten starken Bandes, ist Achim Steinhauer, ein Bruder im Geiste des Autors, auch wenn der die eigenen Spuren gelegentlich, so durch Steinhauers Hauptberuf eines Biologen, eher lax zu verwischen sucht. Gleichwohl blitzt Neutschs Charakter und Überzeugung durch jedes der Steinhauerschen Knopflöcher. Ein Mann, ein Traum – darum geht es. Und immer um das Gesellschaftliche, das dem individuellen Konflikt übergeordnet ist.
Steinhauer ist ein erfolgreicher Jungautor, sein Werk „Der Grimm“ über die Untiefen sozialistischer Produktion und Scheinmoral wird verfilmt, der Film (wie „Spur der Steine“) schließlich verboten. Was Steinhauer, den redlichen Genossen, schon mal zu Widerworten hinreißt. Obendrein bekommt er ein Problem mit seiner Frau Ulrike, seiner Jugendliebe, die er auch fleischlich, wie wir lesen können, noch über die Maßen begehrt. Aber dann tritt die nicht minder sinnliche Barbara aufs Spielfeld, Schauspielerin und Tochter des Spitzenfunktionärs Matthias Münz, hinter dem man wiederum den früheren halleschen SED-Parteichef Horst Sindermann erkennen kann. Überhaupt, für Schlüssel-Sucher gibt es Einiges, auch Verwirrendes, abzuholen in diesem Buch. Während manche Promis wie der Maler Willi Sitte beim Namen genannt werden, sind andere Personen der Zeitgeschichte verfremdet. So liest der Autor Steinhauer einmal einem Anarcho im Westen die Leviten, der wohl der damalige Theoretiker der Außerparlamentarischen Opposition und heutige Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit sein muss. Und dem eröffnen Steinhauer/Neutsch, was im Westen noch Traum der Linken, im Osten aber angeblich schon Wirklichkeit ist: „Abschaffung der überkommenen Autoritätsverhältnisse“ und „kritische Auseinandersetzung mit den Schrecken der deutschen Vergangenheit“ gehören dazu, Geschlechtergerechtigkeit, „politische Beteiligung der Bürger an den Befugnissen des Staates“ und die Mitbestimmung in den Betrieben.
Genrebild der ideologischen Epoche
Es sind Momente wie diese, wo Neutschs Text zwar auf die Höhe des Diskurses strebt, aber die Latte dann, bedingt durch ideologischen Vorsatz und den eigenen Glauben, glatt reißt. Natürlich war es nicht so in der DDR, und es fällt schwer zu glauben, Erik Neutsch hätte das nicht gewusst. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Frage, ob NVA-Truppen 1968 nun aktiv an der Niederschlagung des Prager Frühlings beteiligt gewesen sind oder eben „nur“ einsatzbereit an der Grenze zur CSSR verharrten. Darum geht es aber gar nicht, darum ging es schon damals nicht. Sondern vielmehr um die Einigkeit der SED-Führung mit dem „Großen Bruder“ Sowjetunion, dass man den Aufstand der Friedfertigen wie geschehen brutal ersticken müsse.
So verstrickt sich diese Prosa in Kämpfe, die tatsächlich aus der Zeit gefallen sind. Und Weniges liest man, aus dem das Vergangene klarer hervortreten würde. Gleichwohl liefert der Band ein Genrebild der ideologischen Epoche. Angefeuert wird der Text durch die Vehemenz seiner Überzeugung wie durch die geschilderte Sinnlichkeit des Liebens, geschmälert die Leselust hingegen durch vielfache sprachliche Ungelenkheit wie jene: „Er hatte sich in den kleinen, ein gemütliches Ambiente verbreitenden Saal begeben...“.
Den sechsten Band, wie gesagt, wird es nicht geben. Wir wissen nicht, wie Achim Steinhauer in den Westen gekommen sein wird. Von Erik Neutsch wissen wir es: Aufrecht, werden seine Genossen es begeistert nennen. Und die anderen mögen selber ihr Urteil finden. Ein großes Herz hatte er jedenfalls.