Christoph Martin Wieland Christoph Martin Wieland: Mit ihm begann die Klassik
hamburg/MZ. - Zu seinen Lebzeiten war Christoph Martin Wieland (1733-1813) so berühmt wie Goethe und Schiller, vor allem aber viel erfolgreicher als die beiden Kollegen. Als Autor, Herausgeber, Philosoph und Pädagoge brachte es der aus Oberschwaben stammende Pfarrerssohn zu Wohlstand in Weimar. Weil er nicht für das Theater und keine Lyrik geschrieben hat, verblasste sein Ruhm. Heute ist der am 20. Januar vor 200 Jahren gestorbene Autor einst viel gelesener Bildungsromane ("Geschichte des Agathon", "Die Geschichte der Abderiten") ein fast vergessener Klassiker. Über diesen sprach mit dem Hamburger Wieland-Forscher und Mäzen des Wieland-Gutes Oßmannstedt, Jan Philipp Reemtsma, unser Redakteur Christian Eger.
Herr Reemtsma, der Philosoph Nietzsche hat über Wieland gesagt: Er "hat besser, als irgend jemand, deutsch geschrieben; aber seine Gedanken geben uns nichts mehr zu denken". Hat er recht?
Reemtsma: Ich würde mal so sagen: Sie glauben doch auch sonst nicht alles, was Nietzsche sagt. Er hat zweifellos recht, als die stilistische Virtuosität Wielands in Deutschland wohl seinesgleichen sucht. Das andere ist eine sehr zeitgebundene Äußerung des 19. Jahrhunderts. Das war keine für Wieland besonders günstige Zeit: die Angriffe von Seiten der Romantiker, der beginnende Patriotismus, die ersten Kanonbildungen. Man beginnt mit der ersten Epoche des 18. Jahrhunderts zu fremdeln. Das hat sich dann Mitte des 20. Jahrhunderts wieder deutlich geändert.
Ist Wieland ein Autor, der für die Gegenwart etwas zu denken gäbe?
Reemtsma: Natürlich, wie alle großen Autoren. Ich bin aber immer sehr skeptisch, wenn man einer Idee von Aktualität hinterherhechelt. Als würde es darum gehen, dass man ein Theaterstück auf die Bühne bringt und meint, indem man sich das ansieht, die eigene Zeit besser in den Griff zu bekommen. Diese Art von Aktualität gibt es nicht. Es gibt eine andere Art von Aktualität, die gilt für Autoren wie Shakespeare, Goethe oder Wieland. Das ist die Aktualität der literarischen Bedeutung. Da muss man sich als Leser hinbewegen. Der Autor kommt nicht zu einem.
Was ist bei Wieland zu finden?
Reemtsma: Etwas, wenn ich Arno Schmidt zitieren darf, was es so ganz selten gibt: intellektuelle Poesie und sprachliche Diffizilität bei äußerst klaren Gedanken. Und ein großes Themenspektrum.
Ohne das es die Weimarer Klassik nicht gegeben hätte?
Reemtsma: Ja, das alles beginnt mit Wieland. Den holt Anna Amalia als führenden Intellektuellen Deutschlands als Gesprächspartner für ihren Sohn. Dann kommt Goethe, der gemeinsam mit Wieland Personalpolitik betreibt. Sie holen einen weiteren führenden Intellektuellen nach Weimar: nämlich Herder. Fortan beginnt dieser Ort das zu werden, was er geworden ist. Nicht ohne, dass Wieland dort eine literarisch-politische Zeitschrift gegründet hätte: "Der Teutsche Merkur". Der hatte sein Vorbild im "Mercure de France". Das muss man sich vor Augen halten: Das Gegenstück zu einer Pariser Zeitung findet sich in Weimar, in einem Provinzort! Das zeigt die große Ambition, die dahintersteckt und die dann geistesgeschichtlich aufgegangen ist.
Auch literarisch?
Wieland ist derjenige, der den Roman als literarische Gattung satisfaktionsfähig gemacht hat. Zuvor war dieser eine literarisch minder angesehene Gattung. Wielands "Geschichte des Agathon" wurde als der erste Roman von einem Deutschen mit klassischen Geschmack begrüßt. Da begann die Karriere des Romans als bürgerliche Kunstform.
Und mit Wieland die moderne deutsche Literatur?
Reemtsma: Das kann man so sagen. Mit Wieland und Lessing.
Was war Wieland für ein Typ?
Reemtsma: Ein Intellektueller. Ein politisch ausgesprochen wacher Kopf. Er hat die Bedeutung der Französischen Revolution in ihrer welthistorischen Dimension klarer gesehen als jeder andere um ihn herum. Jemand, der profund gebildet war in der philosophischen Tradition bis in die Antike hin. Ein Virtuose in verschiedenen Sprachen. Er ist der erste große Shakespeare-Übersetzer. Er hat aus der Antike Cicero, Lukian und Aristophanes übertragen. Er war ein universal gebildeter Mensch.
Neben Goethe, Schiller und Herder war Wieland der einzige des Weimarer Zirkels, der nicht geadelt worden ist. Warum eigentlich nicht?
Reemtsma: Da kann man natürlich immer sagen: Da ist niemand auf die Idee gekommen. Auf der anderen Seite wäre das auch etwas, das Wieland von seinem Selbstverständnis als schwäbischer Bürger her wohl kein Ziel gewesen wäre, um das er sich bemüht hätte. Nicht, dass er den Adelstitel zurückgewiesen hätte, wenn man ihm den angeboten hätte. Er hätte es aber wohl nicht als Krönung seiner bürgerlichen Laufbahn angesehen.
Wo stand Wieland politisch? War er Republikaner?
Reemtsma: Er war kein Republikaner. Für ihn war die Französische Revolution kein Ereignis, das man begrüßen oder ablehnen, sondern eines, das man politisch verstehen musste. Dazu wollte er seinen Lesern Hilfestellung geben, indem er den Revolutionsverlauf dokumentierte und kommentierte - und zwar von unterschiedlichen Standpunkten aus. Wieland wollte, dass seine Leser zu allem ein eigenes Urteil finden. Er war kein Leitartikler. Und er war sehr skeptisch, was die Möglichkeiten anging, in einem großen Land wie Frankreich eine Demokratie einzurichten.
Wünschte er sich einen Umsturz in Deutschland?
Reemtsma: Nein, gewiss nicht. Wobei er von Deutschland so nie gesprochen hätte. Er war jemand, der die Aufteilung Deutschlands in kleine Regionen durchaus für einen bewahrenswerten Zustand hielt. Wieland schrieb einmal: Gott bewahre uns vor einer Hauptstadt.
Wie hielt er es mit der Religion?
Reemtsma: Wieland war ein klarer Kritiker des Christentums, ein Religionsskeptiker. Von seiner inneren Haltung her, die er nicht propagieren wollte, war er mindestens ein Agnostiker, wenn nicht ein Atheist. Ihn interessierte aber Religion als ein kollektives Phänomen. Was bindet die Leute an Religion? Was verführt sie, zu der einen oder anderen Religion überzuwechseln? Was den politischen Rahmen anging, sollte jeder glauben können, was er wollte.
Gibt es heutzutage eine Literatur, die in der Tradition Wielands steht?
Reemtsma: Das würde ich so nicht sagen wollen. Welche Literatur steht heute in der Tradition Goethes? Das sind doch alles singuläre Erscheinungen. Autoren nehmen immer ein ganzes Spektrum von Literatur auf und verarbeiten es, ob sie es merken oder nicht. Man kann nicht einfach in der Tradition von jemandem schreiben. Man hat über Wieland gesagt: Er habe nichts, was man Schüler nennen könnte. Das ist wahrscheinlich auch richtig so.
Sie engagieren sich seit Jahren für das Wielandgut Oßmannstedt. Sind Sie am Ziel Ihrer Bemühungen?
Reemtsma: Neulich ist die Wieland-Arbeitsstätte dort eröffnet worden, wo an der Historisch-kritischen Werkausgabe gearbeitet wird. Es gibt das Wieland-Museum, wo sich jeder über Leben und Werk informieren kann. Oßmannstedt ist auch ein Tagungsort, der gerne genutzt wird, weil er ein wunderschöner Platz an der Ilm ist in der Nähe von Weimar. Jeder, der einmal die Möglichkeit eines Besuches nutzt, kommt sehr erfreut wieder.
Welche Lektüre empfehlen Sie dem Wieland-Anfänger?
Reemtsma: Die "Geschichte der Abderiten", ganz eindeutig. Das ist das unmittelbar zugänglichste Buch. Eines, in dem der Leser heutzutage sehr interessante, nachdenkliche und amüsante Parallelen zum ihn umgebenden politischen Ambiente finden kann.
Und welches Wieland-Buch ist Ihnen das wichtigste?
Reemtsma: Der späte Roman "Aristipp und einige seiner Zeitgenossen". Ein sehr, sehr komplexes Buch, das man in seinem Leben durchaus einige Male lesen kann.
Im Festsaal des Wittumspalais' in Weimar öffnet am 26. Januar die Wieland-Ausstellung "...unser unendlich kleines Rom". Die Schau läuft bis 7. April.