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Annekathrin Bürger Annekathrin Bürger: Der Rest, der bleibt

Von Marlene Köhler 30.03.2012, 17:09

Halle (Saale)/MZ. - In ihrer Stimme ist alles drin. Selbst wenn sie nur "Ochsenbäckchen und einen trockenen Roten" bestellt im Restaurant, das warme Timbre ist da, das Klare und Ungekünstelte: unverkennbar Annekathrin Bürger. Mit dieser Stimme begeistert sie heute bei Lesungen und Konzerten, ist viele Tage im Monat unterwegs im Osten des Landes, zwischen Kap Arkona und dem Fichtelberg. Die Frage, wie sie das schafft mit fast 75, stellt sich nicht. Nicht dem, der sie sieht: so wach, so temperamentvoll, so voller Lust auf das Leben wieder. Das schöne Gesicht, gereift in den Jahren. Was sie damit alles ausgedrückt hat, seit sie 1955 von Gerhard Klein am Strand von Göhren für den Film entdeckt wurde.

Der Ausspruch des Regisseurs, der sie erst gar nicht besetzen will - "Die ist zu dick und sächselt!" - findet sich fortan in jedem Text über die Schauspielerin. Annekathrin Bürger amüsiert sich darüber. Aber sie weiß Klein, ihren ersten Regisseur, zu schätzen. Er hat sie zur "Bürger" gemacht, die zuvor Rammelt hieß, wie ihr geliebter Vater Heinz, der bekannte Tiermaler aus Dessau. "Eine Berliner Romanze" spielt sie damals mit ihrem ersten Film- und Lebens-Partner Ulrich Thein, eine Ost-West-Dreiecks-Liebesgeschichte, und "Thein - Rammelt - Pape" auf dem Filmplakat, das geht nicht, das sieht sie ein. Unendlich lang scheint das her zu sein.

Den Namen Bürger übernimmt sie von Großmutter Käthe, der Landschaftsmalerin aus Leipzig. Der Vater hat das Talent zum Malen geerbt, er gilt schon als der "Walt Disney des Ostens", dann muss er in den Krieg. Auch Bruder Olaf ist Maler, Bruder Hans-Jörg gestaltet historische Zinnfiguren, und Annekathrin, die gelernte Gebrauchswerberin, hat ja auch im Stadttheater Bernburg den Pinsel geschwungen. Wieso ist sie eigentlich nicht Malerin geworden? "Ich hatte keinen schlechten Strich, aber mehr als Schriften und Dekorationen hinten im Malsaal interessierten mich die Schauspieler vorn auf der Bühne", sagt Annekathrin Bürger.

Auf der Schauspielschule Babelsberg wird sie trotzdem erstmal weggeschickt, sie ist mit 17 viel zu jung. Dann kommt Klein, und ein Jahr später klappt es auch mit der Filmhochschule. Von da an wird sie drehen und Theater spielen, 35 Jahre fast ohne Pause.

Gibt es Lieblingsrollen? Das zu beantworten sei ihr beinahe unmöglich - bei 190 Film- und Fernsehrollen, bei den vielen Figuren an den Theatern, dem Deutschen, dem der Bergarbeiter in Senftenberg und der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. An den Defa-Film "Fünf Tage - fünf Nächte" (1961), mit dem sie auf dem Filmfestival in Moskau so viel Sympathie fand, erinnert sie sich gern, auch an "Königskinder" mit Armin Mueller-Stahl (1962 / Regie: Frank Beyer), an den Fernseh-Vierteiler "Wolf unter Wölfen" (1964) von Hans-Joachim Kasprzik, an "Abschied" mit Manfred Krug (1968 / Regie: Egon Günther) oder, im gleichen Jahr, an "Mit mir nicht, Madam!", dem ersten Film unter der Regie ihres Mannes Rolf Römer. Viele weitere mit ihm sollten folgen, vor allem in den 70er Jahren: "He, Du!", "Tödlicher Irrtum", "Hostess", der Polizeiruf 110 "Schuldig". Annekathrin Bürger, eine der beliebtesten Schauspielerinnen in der DDR, hat immer zu tun. Trotzdem wächst eine gewisse Unzufriedenheit. Vor 25 Jahren beklagt sie in einem Gespräch mit der "Freiheit", dass es für Schauspielerinnen jenseits der 50 keine guten Rollenangebote gebe, kaum Stoffe, die zur Auseinandersetzung reizen. Und just 1990 bekommt sie eine der spannendsten Aufgaben ihrer Karriere: die Chansonsängerin Marianne in "Der Rest, der bleibt". Der Film erzählt von der Liebe zwischen einer reifen Frau und einem sehr viel jüngeren Mann. Bodo Fürneisen hat die Rolle sieben Jahre zuvor für sie geschrieben. Was heute ein gängiger Plot wäre, ist zu DDR-Zeiten spektakulär, fällt aber 1991 in den Umbruch des Landes, wie viele Filme dieser Zeit.

Ganze fünf Streifen dreht sie in den fünfziger Jahren, die wichtigen kommen erst später. Aber die Berlinale 2006 will sie als "Traumfrau der Fünfziger" feiern. Ist das Auszeichnung oder Ignoranz? Annekathrin Bürger beschließt, sich zu freuen. Dass sie, die im Osten jeder kennt, jetzt in ganz Deutschland wahrgenommen wird. Im Westen hat sie keinen Namen, als die Wende kommt. Ihr erstes Rollenangebot: eine Minute in "Praxis Bülowbogen". Sie fängt ganz unten an, arbeitet sich hoch, ist Richterin "Im Namen des Gesetzes", spielt ab 1999 acht Jahre lang im MDR-Tatort die Kneipenwirtin Friederike, Freundin von Kommissar Ehrlicher (Peter Sodann). "Die war für mich wichtig", sagt die Bürger, und: "Jetzt sind Rollen in meinem Alter besetzt." Die Generation nach mir, sagt sie, setzt sich besser durch, und das ist gut so.

Zum 70. Geburtstag erscheint bei Droemer ihre gemeinsam mit Kerstin Decker geschriebene Biografie, jetzt, kurz vor ihrem 75., hat "Das Neue Berlin" sie als Taschenbuch herausgegeben. Der letzte wirklich substanzielle Film gibt den Titel: "Der Rest, der bleibt". Mit dem Buch ist sie auf Lese-reise, wählt einige Passagen auch nach dem Veranstaltungsort.

In Leipzig zum Beispiel liest sie die Stellen mit Oma Käthe, in Dresden die mit dem Einsatz für das Bellevue; oder auch die mit Rolf Römer, dem Autor, Regisseur und Schauspieler (u. a. "Jahrgang 45"), denn die Familie ihres Mannes lebt ganz in der Nähe, in Moritzburg, und Römer ist in Sachsen unheimlich beliebt. Die Seiten mit seinem Unfalltod im Februar 2000 liest sie nicht. Das ginge über ihre Kräfte. Aber die, wo das Ehepaar Bürger-Römer nach der Ausbürgerung Biermanns bei Erich Honecker vorspricht. Schließlich ist sie im Rat für Kultur, hat gerade Charlotte von Mahlsdorfs Museum gerettet und will die Diskussion um die Ausbürgerung und die Repressalien gegen die Unterzeichner des Protestes nicht den Westmedien überlassen. Bei Honecker sprechen sie die Kampagne gegen Manfred Krug an, die Atmosphäre der Angst im Land und den Rat der Betroffenen: Sucht euch Nischen! Resigniert, aber lebt!

Annekathrin Bürger ist ein politischer Mensch. Sie kann nicht leben, ohne zu helfen, ohne sich einzumischen. Später wird sie immer wieder gefragt, warum sie damals nicht weggegangen sei. Sie kann die Frage nicht mehr hören, die Reaktionen derer, "die heute wie selbstgefällige Richter von außen diese Zeit beurteilen". Klar hätte sie 1984 im Westen bleiben können, als sie mit einem Freund Federico Fellini in Rom besuchte. Eine ehrgeizigere Schauspielerin als sie wäre vielleicht dort geblieben. Aber warum sollte ich meine Familie im Stich lassen, fragt sie. Lieber tritt sie am 4. November 1989 bei der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz auf, singt ein Lied für Walter Janka, den frühen Leiter des Aufbau-Verlages und Defa-Dramaturgen, den die Genossen ins Zuchthaus Bautzen sperrten. Es ist Trauer in ihrer Stimme, denn die bitterböse Abrechnung mit Stalin ist zugleich der Abgesang auf eine Hoffnung.

Und was ist nun "Der Rest, der bleibt"? Sich treu zu bleiben, sagt die Künstlerin. Gute Freunde zu haben. Ein Stück Familie. Vor allem Bruder Olaf und Schwägerin Christine Rammelt-Hadelich haben mit ihrer Aufforderung, einige Ostsee-Episoden aufzuschreiben, ihre Kreativität angestachelt. Das Buch "Geliebte Ostsee" hatte dann so viel Erfolg, dass es schon in die vierte Auflage geht und seit kurzem auch als Hörbuch vorliegt. Auch daraus muss sie landauf und landab lesen. Und der Spaß an der Begegnung mit Menschen hat sie beflügelt, endlich das lange geplante, neue Konzertprogramm zusammen zu stellen. Wie schon bei vorangegangenen Programmen, z.B. "Liebe bei Brecht und anderen", soll die schönste Sache der Welt im Mittelpunkt stehen.

Für "Liebe ist das schönste Gift" haben ihre Musiker Fred Symann und Christian Georgi, mit denen sie seit 30 Jahren arbeitet, Gedichte und Texte von Frauen vertont, von der Antike bis heute. Sie erzählen von Leidenschaft, Verzicht und Sehnsüchten, sie erzählen ihre Geschichten leise und heiter. "Laut ist es doch schon genug", sagt die Frau mit der charismatischen Stimme, der die Zuhörer noch immer eine erotische Ausstrahlung bescheinigen.