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Political Correctness Political Correctness: Dürfen wir wirklich nicht mehr sagen, was wir denken? Ein Kommentar zur vermeintlichen Tugenddiktatur

Von Harry Nutt 07.12.2016, 12:28

Berlin - Nachdem vor etwas mehr als zwölf Jahren der niederländische Filmemacher Theo van Gogh brutal auf offener Straße ermordet worden war, blieben entscheidende Merkmale des Täters in den Zeugenvernehmungen zunächst außen vor. Es habe sich um einen jungen Mann mit Sonnenbrille gehandelt, gab ein Augenzeuge zu Protokoll. Später kam heraus, dass er verschwiegen hatte, dass der Täter ein orientalisches Gewand trug. Warum? Er wollte vermeiden, dass man ihm ausländerfeindliche Motive unterstellt.

Die Begebenheit kann heute als ein klarer Fall von falsch verstandener politischer Korrektheit gewertet werden, eine Art sich selbst zensierender Toleranz, die der mörderischen Attacke gegenüber völlig unangemessen war. Die Ermordung Theo van Goghs war einer der ersten demonstrativen Akte des islamistischen Terrors in Europa. Das öffentliche Bewusstsein aber schien weitgehend blind gegenüber den heraufziehenden Gefahren einer religiös-verbrecherischen Ideologie. Es war, wie das Beispiel zeigt, nicht ohne weiteres möglich, das Gebot der Rücksichtnahme adäquat an ein ungeheuerliches Geschehen anzupassen.

Und es fällt noch immer schwer. Das legt jedenfalls der zuletzt scharf kritisierte Umgang der ARD-Tagesschau mit dem Freiburger Sexualmord nahe, dessen mutmaßlicher Täter ein unbegleiteter jugendlicher Flüchtling aus Afghanistan ist. Dessen Herkunft, so die Unterstellung vieler Tagesschaukritiker, habe die Nachrichtenredaktion dazu veranlasst, den Fall lieber zu verschweigen. Während die digitalen Medien und einschlägige Portale hoch spekulativ meinten, verurteilten und berichteten, zog sich die ARD zunächst darauf zurück, dass es sich um einen regionalen Einzelfall handele, über den in der Regel nicht berichtet werde. Seit sich auch Spitzenpolitiker aller Parteien dazu geäußert haben, sind die gesellschaftliche Relevanz des Falls und der Kontext, in dem er verhandelt wird, nicht länger von der Hand zu weisen. Die Flüchtlingspolitik bleibt in all ihren Facetten ein gesellschaftspolitisch brisantes Thema. Weglassen und Ausblenden ist keine Option. Das wurde dann auch den Tagesschau-Machern klar, sodass der Fall einen Tag später den Weg in die Sendung fand.

Aber handelt es sich bei der verdrucksten Einschätzung der Tagesschau bereits um eine falsch verstandene Toleranz oder gar eine fatale Form von Täterschutz? Im Zusammenhang mit der Zuschreibung von politischer Korrektheit ist die Neigung zu rhetorischen Zuspitzungen unüberhörbar. Nicht wenige sehen sich einer Diktatur der politischen Korrektheit ausgesetzt, zu der sich die Annahme durchgesetzt hat, dass viele nicht mehr sagen dürfen, was sie denken.

Eine neue Tugenddiktatur?

Das Vokabular war schnell zur Hand. Bereits in den frühen 90er-Jahren sprach der Zeit-Journalist Dieter Zimmer in einem Essay, in dem er das Herüberschwappen der Political Correctness aus dem akademischen Diskurs in den USA nach Deutschland konstatierte, von einer neuen Tugenddiktatur. Die an amerikanischen Universitäten gewiss nicht unberechtigte Auseinandersetzung mit rassistischer und sexueller Diskriminierung werde letztlich in einen alles überziehenden Kulturkampf verwandelt, so seine Kritik. Wer etwas zu sagen habe, laufe umgehend Gefahr, sich über seinen Sprachgebrauch verdächtig zu machen.

Seither gibt es immer wieder einmal durch die öffentliche Debatte patrouillierende Sprachpolizisten. Sie vermögen allerdings wenig ausrichten gegen die frei flottierende Wut, mit der in den digitalen Welten beinahe alles ungeschützt zur Sprache kommen kann. Wer von der Herrschaft der politischen Korrektheit spricht, hat noch eine Vorstellung von einer klar strukturierten bürgerlichen Öffentlichkeit, in der einige wenige über den Zugang zu den kommunikativen Kanälen entscheiden. Wie abwegig diese Vorstellung mittlerweile ist, zeigt nicht zuletzt die Debatte über das nicht gerade souveräne Verhalten der Tagesschau-Redaktion.

Sprech- und Ausdrucksverbote oder zumindest deren Hemmung sind keineswegs neu. Ein gesellschaftskonformes Schweigegebot firmiert unter den Regeln des Anstands und des Taktgefühls. Das gesellschaftliche Ganze definiert sich stets auch über soziale Scham und die Zurückhaltung, nicht alles zu sagen, was man denkt. Das kam selbst noch in einem profanen Hit des sich als schamlosen Entertainer inszenierenden Stefan Raab zum Ausdruck, der auf infantil-selbstironische Weise sang: Wadde hadde dudde da.

Viele Menschen mit dunkler Hautfarbe reagieren inzwischen gereizt, wenn sie immerzu gefragt werden, woher sie eigentlich stammen, obwohl sie doch als Deutsche in Krefeld oder Creglingen geboren wurden. Das ist verständlich. Ob die Frage jedoch ehrliches Interesse oder bereits Ausgrenzung impliziert, wird man nur herausbekommen, wenn das Gespräch die Chance auf Fortsetzung erhält. Ängstliche Schweigegebote aber verhindern es ebenso wie die fatalistische Behauptung eines unausgesprochenen Verbots.