Nachruf Nachruf : Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck war ein radikaler Kämpfer für die Menschlichkeit

Köln - Eigentlich musste man Rupert Neudeck nicht fragen, wie es ihm geht. Ohnehin sagt er meist, es gehe „gut“. „Wir sind doch privilegiert hier“, setzte er dann hinzu. Rupert Neudeck eilte rastlos durchs Leben. Auch als er die 70 Lebensjahre lange schon erfüllt hatte, reiste er nimmermüde durch die Krisenregionen der Welt, notierte seine Eindrücke, gab dieser Zeitung Interviews aus den entlegensten Winkeln der Welt, schrieb oder besprach Bücher.
Vor wenigen Tagen erst bot er uns eine Buchbesprechung über ein Putin-Buch an und wir sagten zu. Doch dieses Mal lieferte der zuverlässige Schreiber nicht und wir ahnten, dass etwas ihn daran hindert, was stärker sein musste als dieser Mann mit seinem starken, an Sturheit grenzenden Willen.
Ohne seine Frau Christel war Rupert Neudeck nicht denkbar. Der streitbare und mitunter aufbrausende ehemalige Jesuit fand in seiner Partnerin ein kongeniales Gegenüber. Und mochte Neudeck selbst auch völlig unerschrocken, mitunter undiplomatisch agieren, so hörte er doch zumindest auf seine Frau und folgte ihrem Rat. Christel Neudeck gelang es, die Mischung aus radikalem Intellekt und hoher Emotionalität, die Neudeck prägten, in Bahnen zu lenken. Und so galt der Bürgerpreis der deutschen Zeitungen, verliehen im Mai 2015, im Grunde dem Ehepaar Neudeck wie auch der Erich-Fromm-Preis, der dem Paar gerade erst verliehen wurde. Die letzte Auszeichnung war eine der Europaschule Bornheim.
„Nie wieder feige sein“
Flucht und Vertreibung standen am Beginn seines Lebens, als er – fünf Jahre alt – mit seiner Mutter und vier Geschwistern fliehen musste. Am Danziger Hafen verfehlten sie die „Wilhelm Gustloff“ nur knapp, die kurz darauf mit Tausenden Flüchtlingen an Bord in der Ostsee von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde. Dieses Schicksal stand sicher Pate in seiner persönlichen Entwicklung. Nach Studium und Promotion fand Neudeck von 1977 an seine berufliche Heimat im Deutschlandfunk. Häufig traf man ihn in der Kölner Buslinie 133. Da saß er konzentriert lesend.
Nur wenige ahnten, dass da ganz unscheinbar der Mann saß, der 1979 mit dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll das Komitee „Ein Schiff für Deutschland“ gegründet hatte. Die „Cap Anamur“ nahm im südchinesischen Meer mehr als 10 000 vietnamesische Flüchtlinge auf, die nach der kommunistischen Machtübernahme geflohen waren. 1982 wurde daraus die Hilfsorganisation „Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e. V.“
„Nie wieder feige sein“, nannte Neudeck sein Engagement. Weil er sich um Regeln wenig scherte, war er dem einen oder anderen etablierten Hilfswerk ein Dorn im Auge und Regierenden sowieso. Doch immer wieder fand er Partner, die den so mutigen wie kantigen Menschen zu nehmen wussten. Ernst Albrecht (CDU), Ministerpräsident von 1976 bis in die 90er Jahre in Hannover, etwa. Als Niedersachsen sich in einer humanitären Geste für die Flüchtlinge öffnete, war das Eis in Deutschland gebrochen. Die Neubürger schrieben eine Erfolgsgeschichte in Sachen Integration, gründeten den Verein „Danke Deutschland“, und immer wieder konnte es zu unverhofften Begegnungen kommen, wenn man mit den Neudecks chinesisch essen ging. Dann entpuppten die Restaurantbetreiber sich als Vietnamesen, erzählten ihre Rettungsgeschichte und dankten dem Mann, der in ihren Augen dafür stand.
Er rieb sich an der Welt
2002 verließen die Neudecks „Cap Anamur“ und gründeten die „Grünhelme“. Junge Muslime, Christen und Andersgläubige arbeiteten beim Wiederaufbau in Krisengebieten zusammen. Wieder war das Reihenhaus in Troisdorf eine zentrale Anlaufstelle, wieder bereiste Neudeck die Welt und wieder litt er an all dem, was er sah. Neudeck kritisierte gern, leidenschaftlich und ohne Ansehen der Person. Wäre er jemand gewesen, der sich fügt, der leise verhandelt – die „Cap Anamur“ wäre nie in See gestochen. Doch da er war, wie er war, rieb Neudeck sich mitunter an der Welt und die Welt an dem Mann, der keine seiner Grundüberzeugungen je einer taktischen Überlegung geopfert hätte.
Wer ihn in den letzten Jahren sah, der erschrak – so blass und durchscheinend wirkte Neudeck dann, in dem doch eigentlich dieses gewaltige Feuer brannte. Rupert Neudeck, der mit seiner Familie unermüdlich gegen Not und Ungerechtigkeit in der Welt kämpfte, ist am Dienstag im Alter von 77 Jahren an den Folgen einer Herzoperation gestorben.