Interview mit Terrorismusexperte Peter Neumann Interview mit Terrorismusexperte Peter Neumann: "Wir stehen am Anfang einer neuen Terrorwelle"
Köln - Herr Prof Neumann, Sie haben schon vor einigen Monaten gesagt, es sei nicht die Frage, ob in Europa ein weiterer Terroranschlag durch islamistische Fanatiker passiert, sondern wann. Haben Sie mit einem solchen Ausmaß gerechnet, wie es jetzt in Paris zu betrauern ist?
Peter Neumann: Nein, das hat mich überrascht. Die Strategie des Islamischen Staates bisher war, vor allem auf Anschläge durch Einzelne, durch so genannte einsame Wölfe, zu setzen - ohne selber etwas dazu vorzubereiten. Dass der IS in der Lage ist, solche komplexen Attacken durchzuführen, hätte ich erst in ein oder zwei Jahren erwartet.
Terrorismusexperte Peter Neumann arbeitet als Professor für Sicherheitsstudien am King's College in London. Mithilfe von Sozialen Netzwerken beobachtet er europäische Islamisten in Syrien und im Irak.
Ist das eine Zäsur wie es der Anschlag vom 11. September in den USA war?
Das ist eine dramatische Änderung der Taktik, nicht unbedingt der Strategie. Denn der IS sagt ja seit September vergangenen Jahres, dass er Anschläge in Europa will. Was sich geändert hat, ist das Ausmaß und die Intensität und die Tatsache, dass er offensichtlich dabei geholfen hat, die Aktion zu organisieren.
Gefahr für eine ganze Generation
Stehen wir am Anfang einer weiteren Terrorwelle?
Ja, das wird so kommen, fürchte ich. Das Ausmaß der Mobilisierung aus Europa, also die zahlreichen Leute, die nach Syrien und in den Irak gegangen sind, und die Hiergebliebenen, die den IS enthusiastisch unterstützen: Mir war immer klar, dass sich hier etwas zusammenbraut. Es wird vielleicht nicht heute oder morgen einen Anschlag in einer deutschen Stadt geben. Aber das Thema wird uns noch mindestens zwei Jahrzehnte, also eine ganze Genration lang, beschäftigen und gefährden.
Wie werden die Pariser Morde denn in den einschlägigen Netzwerken und Foren diskutiert?
Seit den frühen Morgenstunden, noch lange bevor das Bekennerschreiben veröffentlicht war, wurden die Attentate von Unterstützern des Islamischen Staates enthusiastisch gefeiert. Man wollte den Anschlag für sich in Anspruch nehmen, unbedingt. Denn in den letzten Monaten hatte man ja wenig zu feiern. Speziell im Irak und in Syrien ist der IS in der Defensive. Viele der Gebiete, die im vergangenen Jahr dazu gewonnen wurden, sind jetzt wieder bedroht, manche hat man schon verloren.
Die Täter in Paris sollen ruhig und konzentriert vorgegangen sein. Beim Massaker in der Konzerthalle „Bataclan“ sollen sie mehrfach nachgeladen und systematisch auch auf schon am Boden liegende Opfer geschossen haben. Was sind das für Menschen?
Da haben offensichtlich Leute operiert, die trainiert wurden, die eine militärische Ausbildung haben. Und die dann, wenn es dazu kommt, ihre Aktion blind und unbeirrt durchziehen, möglicherweise auch schon verrohrt und brutalisiert durch den Konflikt in Syrien.
Lesen Sie auf der nächsten Seite unter anderem: Warum Europäer als Kanonenfutter des IS dienen und warum gerade jetzt eine explosive Flüchtlingsdebatte entfacht werden könnte.
Europäer als IS-Kanonenfutter
Bisher waren Selbstmordattentäter des IS fast immer europäische Kämpfer.
Ja, das ist es, was diese Gruppe so problematisch macht. Etwa 5000 Europäer, darunter 800 Deutsche, haben sich dem IS angeschlossen. Zwischen 25 und 40 Prozent dieser Menschen sind mittlerweile wieder zurück in ihren Heimatländern. Die meisten hatten noch nie eine Waffe in der Hand, bevor sie zum ersten Mal ins Kriegsgebiet gefahren sind. Als Soldaten sind die eigentlich unbrauchbar. Und diesbezüglich wahrscheinlich eher eine Last für den IS als eine Verstärkung.
Aber die Besonderheit, dass sich diese Leute für die abstrakte Idee eines Islamischen Staates begeistern, dass sie eben nicht wie die Einheimischen für ihre Kinder und Nachbarn kämpfen und damit auch einen Grund zum Weiterleben haben, macht sie verführbarer, wenn es um Selbstmordattentate geht. Sie sind das Kanonenfutter, das für solche Einsätze verheizt wird.
Auch Anschläge des IS in Europa wurden bisher immer von Europäern durchgeführt.
Ja. Meist von Menschen, die schon in ihren Heimatländern radikalisiert wurden. Wenn dies in Paris jetzt anders sein sollte, dann wäre auch das ein absoluter Strategiewechsel. Ich hoffe nicht, dass es so kommt. Denn wenn tatsächlich Syrer beteiligt gewesen sein sollten, wird in der öffentlichen Diskussion schnell auch eine Verbindung zu dem Thema Flüchtlinge hergestellt werden. Und wenn diese Bereiche miteinander vermischt werden, dann könnte das sehr explosiv sein.
Keine Belege für Einschleusung des IS
Müssen wir nicht schon längst befürchten, dass sich unter den zahlreichen Flüchtlingen, die derzeit nach Deutschland kommen, auch islamistische Gewalttäter verstecken?
Faktisch gab es für eine massenhafte Einschleusung durch den Islamischen Staat bisher keine Belege. Rein statistisch besteht natürlich die Gefahr, dass einzelne Täter dabei sind. So könnte es auch in Paris gewesen sein. Deshalb ist es richtig, dass die Sicherheitsbehörden das im Auge behalten. Die Flüchtlinge kollektiv verantwortlich zu machen wäre indes ein Fehler, denn viele sind ja gerade vor dem Islamischen Staat geflohen.
Alleine in NRW haben Verfassungsschützer mehr als 30 Versuche von extremistischen Salafisten gezählt, in Kontakt mit muslimischen Flüchtlingen zu treten. Ist das eine Gefahr?
Ich glaube, dass diese Versuche zumindest momentan wenig erfolgreich sein werden. Die Leute sind froh, unversehrt in Deutschland zu sein, und das letzte was sie jetzt wollen, ist, dass ihnen jemand etwas über den Islam erzählt, vor dessen Auswüchsen sie schließlich geflohen sind.
Drei Typen von West-Dschihadisten
Seit wann beobachten Sie die Szene?
Seit etwa zehn Jahren beobachte ich den djihadistischen Terrorismus, vor allem bezogen auf europäische Täter. In den letzten drei Jahren ist dann natürlich der Islamische Staat in den Vordergrund getreten. Wir haben mittlerweile Datensätze von etwa 700 europäischen Kämpfern, die nach Syrien oder in den Irak gegangen sind. Teilweise haben wir monatelang mit diesen Leuten über soziale Medien kommuniziert, auch immer wieder Gespräche beispielsweise per Skype geführt.
Wenn Sie den typischen West-Djihadisten beschreiben würden, was sind das für Charaktere?
Es gibt mehrere Typen. Zum einen diejenigen, die nach Syrien gegangen sind, um ihre sunnitischen Brüder und Schwestern im Kampf gegen das Assad-Regime zu unterstützen. Dann gibt es die Gruppe, die an den Islamischen Staat als djihadistische Utopie glauben, die dort leben und ihre Kinder kriegen wollen. Die wollen daran beteiligt zu sein, diesen Staat aufzubauen. Und drittens gibt es die Menschen, die in den westlichen Gesellschaften gescheitert oder zumindest abgehängt oder orientierungslos sind. Meist junge Männer, auch schon 16- oder 17-Jährige, die abenteuerlistig sind, auf die Gewalt nicht abstoßend sondern eher reizvoll wirkt. Die werden dann von der radikalen salafistischen Bewegung aufgelesen, die ihnen Regeln, Strukturen und Gemeinschaft gibt. All das, was sie in ihrem bisherigen Leben nicht erfahren haben.
Das Gespräch führte Detlef Schmalenberg