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"Die Urbane" "Die Urbane": Eine "HipHop-Partei" die Politik und Musik vereinen will

Von Melanie Reinsch 15.08.2017, 10:30
Die Landesvorsitzende Niki Drakos, der Direktkandiadat Frithjof Zerger und Parteigründer Raphael Hillebrand (v.l.n.r.).
Die Landesvorsitzende Niki Drakos, der Direktkandiadat Frithjof Zerger und Parteigründer Raphael Hillebrand (v.l.n.r.). Markus Wächter / Waechter

Berlin - Vier Tage vor Abgabe fehlen 500 Unterschriften. 500 Menschen, die in Gesprächen an der Straße, im Park oder im Café von einer Idee überzeugt werden müssen – von einer Vision, entstanden im Winter in Berlin. Also schnappt sich Raphael Hillebrand Papierbögen und Stift, geht raus und spricht Berliner an: „Hey, kennt ihr schon die neue Hip-Hop-Partei?“

Hillebrand ist 35 Jahre, Hip-Hop-Tänzer und Choreograf. In Berlin aufgewachsen. In Hong Kong geboren. Auf Fotos lächelt er sanftmütig aus seinem Kapuzenpullover oder wirbelt mit seinem Körper durch die Lüfte.

Rund sechs Monate zuvor hat er diese Idee: Eine neue Partei muss her. Er teilt auf Facebook eine Veranstaltung: „HipHop Partei Treffen“ am 18. Januar 2017. „Jeder hat etwas an der aktuellen politischen Situation zu kritisieren. Wir haben alle das Recht und die Pflicht uns an unserer Demokratie zu beteiligen“, schreibt er.

Mindestens 2000 Unterschriften nötig

20 Menschen kommen in den Kultur-Club Panke in Berlin-Wedding, der versteckt in einem Innenhof liegt. Es sind DJs, Musiker, Tänzer, Künstler, Freunde. Sie reden über Politik, über ihre Sicht auf die Welt, was sie bewegt, warum sie hier heute sind. Und sie fragen sich: Wie können wir Politik und Hip-Hop miteinander verknüpfen und sie auch wieder der Jugend näher bringen?

Wenige Monate später, am 1. Mai, gründen sie eine neue Partei: „Die Urbane. Eine HipHop Partei (du)“. Es wird ein Prozess, der sie an die Grenzen bringen wird. Lernen, leiden, lachen, wenig schlafen. Denn natürlich wollen sie zur Bundestagswahl zugelassen werden. Doch das ist gar nicht so einfach.

Denn laut Bundeswahlgesetz (BWahlG) braucht eine Partei dazu mindestens 2000 Unterstützerunterschriften. 69 Tage vor der Wahl müssen diese beim Bundeswahlleiter auf dem Tisch liegen – quasi als Beweis, dass es da draußen Menschen gibt, die ihre Stimme dieser Partei geben möchten. Nur etablierte Parteien dürfen darauf verzichten.

„Die Urbane“ nicht die einzige neue Partei

Bis kurz vor Schluss erlebt „Die Urbane“ eine Zitterpartie. Erst am letzten Tag haben die Mitglieder alle Unterschriften zusammen: 11,02 Kilogramm Formblätter mit persönlichen und handschriftlichen Unterschriften von Unterstützern liegen auf der Waage. Exakt 2177 gültige Unterschriften. Es reicht!

Insgesamt sind zur Bundestagswahl 48 Parteien zugelassen – zehn mehr als im Jahr 2013. „Die Urbane. Eine HipHop Partei“ ist längst nicht die einzige Partei, die sich neu gegründet hat. Die Partei Demokratie in Bewegung (DiB) zum Beispiel versucht sich ebenfalls als Neuling auf dem politischen Parkett und darf im September antreten. Sie hat sich keine geringere Aufgabe als die Rettung der Demokratie vorgenommen. Auch sie existiert erst seit April.

„Waren ganz schön naiv am Anfang“

Oder die Jugend- und Entwicklungspartei (JED), die im Februar von Schülern eines Gymnasiums in Nordrhein-Westfalen gegründet wurde und die sich für den Ausbau von digitalen Medien, für eine liberalere Drogenpolitik und das neunjährige Gymnasium stark macht. Auch die „Transhumane Partei Deutschland (TPD)“, die „V-Partei - Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer“ oder die „Magdeburger Gartenpartei“ tauchen als Kleinstparteien in der Liste auf.

„Wir waren ganz schön naiv am Anfang“, erinnert sich die Urbane-Parteivorsitzende Niki Drakos. Sie trägt Käppi und Turnschuhe, gab früher Streetdance-Unterricht, ist Mutter zweier Söhne. Die 45-Jährige arbeitet bei dem Berliner Projekt Frauenkreise, das Frauen und Familien in schwierigen Lebenslagen berät. Drakos Schwerpunkt ist Antirassismus und Feminismus.

140 Unterschriften bei Auftaktveranstaltung gesammelt

Zusammen mit Hillebrand bildet Drakos die Urbane-Doppelspitze: Eine paritätisch besetzte Spitze, wie es sie auch bei den Grünen oder den Linken gibt. „Dem Hip-Hop wird ja gern vorgeworfen, sexistisch zu sein. Aber bei uns sind die Hälfte der Mitglieder Frauen. Welche Partei hat das schon?“, fragt Drakos. Es sei klar gewesen, dass auch die Chefposten dieses Geschlechterverhältnis abbilden sollen.

„Wir dachten, wir veranstalten eine Auftaktveranstaltung und dann haben wir die Unterschriften zusammen“, erzählt Drakos. Weit gefehlt – 140 Unterschriften sammeln die Organisatoren an diesem Abend im Mai, als die neu gegründete Hip-Hop-Partei sich der Öffentlichkeit im Club Cassiopeia in Friedrichshain präsentiert. Rund 250 Menschen kommen.

Beschluss von Satzung und Programm kostet Zeit und Nerven

Immerhin. Aber die Unterschriftensammlung bleibt ein kritischer Punkt auf dem Weg zur Zulassung. „Viele tun sich schwer, etwas zu unterschreiben“, berichtet Drakos, „selbst wenn es nur eine Petition ist“. Es bleiben nicht die einzigen Steine, die sich ihnen in den Weg legen. Doch hinschmeißen kommt zu diesem Zeitpunkt für „Die Urbane“ nicht mehr in Frage.

Obwohl viele der Gründungsmitglieder politisch aktiv und interessiert sind – wie man eine Partei gründet und zur Wahl zugelassen wird, das weiß damals keiner so richtig. Schrittweise kämpft sich das Team durch die Paragrafen, trifft sich abwechselnd in den Wohnungen der Mitglieder, debattiert – die Gesetzestexte immer dabei. Vor allem der Beschluss einer Satzung und das Parteiprogramm kostet Zeit und Nerven. Sie teilen die Arbeit auf: Jeder bearbeitet vertraute Bereiche: Drakos schreibt zum Beispiel das Kapitel „Menschenbild“ und „Zusammenleben“.

„Jeder kann mitmachen. Das ist das, wo wir als Gesellschaft gern hinwollen.“

Und sie nutzen das Internet: Wenn ein Kapitel fertig wird, laden sie es im Netz hoch, so dass alle Mitglieder Anmerkungen hineinschreiben können. Manchmal dauert es, bis jeder mit den Formulierungen einverstanden ist. „Wir wollten ja alles richtig machen. Wir meinen das ernst und sind keine Spaßpartei “, sagt Frithjof Zerger. Er ist Direktkandidat in Kreuzberg und stellvertretender Landesvorsitzender von „Die Urbane. Eine HipHop Partei“. Der 49-Jährige ist kein Politikneuling. Zerger arbeitet als Referent im Innenministerium im Bereich Migrationsforschung. Tagsüber trägt er Anzug und Hemd, abends sieht man ihn sportlich mit Turnschuhen und T-Shirt.

Der Soziologe schrieb seine Promotion über soziale Ungleichheit und gesellschaftlichen Wandel. Mitglied einer Partei war Zerger nie – mit den etablierten Parteien konnte er nie viel anfangen, fühlte sich aber stets mit der linken Szene verbunden. Warum nun „Die Urbane“? „Die waren so undogmatisch“, sagt er.

Umso dogmatischer sind die Vorgaben, die „Die Urbane“ erfüllen muss, genau wie alle anderen Parteien auch. Ob etabliert oder nicht: Das bürokratische Korsett ist eng. So muss der Vorstand einer Partei mindestens aus drei Mitgliedern bestehen; der Bundeswahlausschuss überprüft zudem, ob die Parteiziele auch ernsthaft und politisch genug sind; die Satzung muss bestimmte Mindestanforderungen erfüllen; der Name sich von anderen Parteien abheben. Den letzten Punkt hat „Die Urbane. Eine HipHop Partei“ wohl überdurchschnittlich erfüllt – nach vielen Diskussionen jedoch.

31 Seiten langes Parteiprogramm

Die Abkürzung „du“ steht auch hierfür: „Wir sind du.“ Der Begriff „urban“ diente als „Metapher für die Herausforderungen einer zusammenwachsenden Gesellschaft über Städte, Regionen und Nationen heraus“, schreiben die Gründer in dem nur 31 Seiten langen Parteiprogramm. Zum Vergleich: Das der Grünen ist 250 Seiten stark.

So ganz glauben können Drakos und Zerger das alles immer noch nicht. Beide haben sich erst über die Parteiarbeit kennengelernt, jetzt lächeln sie noch immer verwundert oder knuffen sich anerkennend in die Seite, wenn sie ihre korrekte Positionsbezeichnung hören oder aussprechen: Die Parteivorsitzende und der Direktkandidat. Ganz locker kommt das noch nicht über die Lippen. Selbst die Bundeswahlleitung sei überrascht gewesen, erzählt Drakos. Im Mai gegründet? Über 2000 Stimmen? Und schon mehr als 220 Mitglieder? Das sei schon beachtlich.

„Die Urbane“ will Jugendliche erreichen

Hip-Hop und Politik. Wie soll das eigentlich zusammengehen? Es ginge nicht nur um die Musik, sondern vielmehr um die Idee, die hinter dem Hip-Hop stecke, erklärt die Parteivorsitzende. „Hip-Hop ist eine zutiefst politische Bewegung, die ihren Ursprung in den USA der 1970er Jahre hat.“ Die Musik sei eine Kultur, die sich gegen Gewalt, Rassismus und Diskriminierung stark mache. „Wir bedienen uns genau dieser Symbolik“, erklärt sie. „Jeder kann mitmachen. Das ist das, wo wir als Gesellschaft gern hinwollen.“

Dieser Hintergrund hat in der Partei bei der Namensfindung auch die letzten Zweifler überzeugt. Damit will „Die Urbane“ nun Wähler erreichen, die sich von den etablierten Parteien abgewendet haben und die Jugend motivieren, sich wieder stärker politisch zu engagieren. Laut der Shell-Jugendstudie von 2015 stimmen 69 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren dieser Aussage zu: „Politiker kümmern sich nicht darum, was Leute wie ich denken.“

Neupolitiker formulieren ihre Schwerpunkte

Zögern, Politikverdrossenheit – das erlebten Drakos und Zerger auch auf den Straßen in Berlin: „Das bringt doch alles nichts.“ Oder: „Ach, nicht schon wieder so eine Splitterpartei“, hieß es dann. Aber auch das Gegenteil erlebten sie: „Ey Alter, guck mal, eine Hip-Hop-Partei“, ruft ein junger Mann seinem Kumpel zu, als die beiden Urbane-Politiker vor wenigen Wochen auf dem Gleisdreieck in Kreuzberg auf Stimmenfang gehen.

Auf dem Weg zur Partei formuliert „Die Urbane“ ihre Schwerpunkte und klingt dabei plötzlich fast etabliert: Soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung und Selbstbestimmung, Teilhabe, kreative Selbstverwirklichung, ein solidarisch verbundenes Europa.

Aber es geht auch konkreter: Staatliche Förderung der Künste, Wahlrecht für Menschen, die mindestens seit zwei Jahren in Deutschland einen Wohnsitz haben, Schaffung von Barrierefreiheit, Stopp staatlicher Subventionierung zugunsten von Massentierhaltung, Ausbau von 24-Stunden-Kitas, Legalisierung von Cannabis, Schutz von Whistleblowern oder Etablierung diskriminierungsfreier Sprache.

Auch die Grünen haben mal so angefangen

„Gesellschaftliche Vielfalt soll als Chance und nicht als Bedrohung empfunden werden“, ergänzt Zerger. „Doppelte Staatsbürgerschaft, Abrüstung, Abzug der Bundeswehr, Stopp von Waffenexporten. Dafür wollen wir uns einsetzen.“

Nach einer kurzen Verschnaufpause will die Partei nun in den Wahlkampf starten. Wie den anderen Parteien steht auch der „Urbane“ Sendezeit im Fernsehen und im Radio zu. Vielleicht will man Plakate drucken. Das Team „Wahlkampf-Strategie“ hat seinen Dienst jetzt erst begonnen. Auch ein Logo gibt es noch nicht.

Ob man die Unterstützer nun auch zur Urne bekommt, das wird man sehen. Aber die Mission der neuen Partei ist klar. „So many years of depression make me a vision“ zitieren die Neupolitiker den US-amerikanischen Rapper Nas in ihrem Parteiprogramm. „If I ruled the world“ heißt der Song.
Viele Jahre der Krise. Nun die Vision. Auch die Grünen haben so mal angefangen. Ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei. Und auch sie kamen einst in Turnschuhen in den Bundestag.