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Merkel zu Pegida-Rufen Angela Merkel zu Pegida-Rufen: "Das Volk ist jeder der in diesem Land lebt"

Von Daniela Vates 26.02.2017, 17:53
Einen Blumenstrauß für die Chefin überreichte der CDU-Landesvorsitzende Lorenz Caffier.
Einen Blumenstrauß für die Chefin überreichte der CDU-Landesvorsitzende Lorenz Caffier. dpa

Stralsund - Die Frau, um die es geht, sitzt erst   mal im Dunkeln, ganz außen am Rand, mit dem Rücken zur Wand. Auf der Bühne steht ein Mann mit Grübchen, schwarzer Anzug, schmale Krawatte. Er lächelt verschmitzt und dann singt er, aus voller Kehle, triumphierend, trotzig, sich selbst Mut zusprechend:  „Vinceró! Vinceró! Vinceeeróoo!“ Ich werde siegen. Ich werde siegen. Ich werde siegen.

Die Frau am Rand ist Angela Merkel, der Mann auf der Bühne ist nicht Martin Schulz, auch kein anderer Politiker, sondern ein junger Tenor vom Theater Vorpommern. Er singt für sie.
Vielleicht würde Merkel jetzt gerne einstimmen  in diesen Puccini-Opern-Gassenhauer. Würde gerne dem Publikum hier drinnen, und draußen den Umfrageinstituten, den Journalisten, der jubilierenden SPD und ihrem Martin Schulz entgegenschmettern, aus voller Kehle: Ich werde siegen. Dreimal hintereinander am besten. Im Augenblick wäre es nicht klar, was dabei überwöge: die Selbst-Ermutigung, der Trotz oder der Triumph. Merkel singt selbstverständlich nicht, sie überlässt das dem Tenor auf der Bühne. Das Publikum, an langen Tischen, ist ohnehin nicht ganz bei der Sache. Es ist ein Murmeln im Raum und der Geruch nach Kartoffelsuppe.

Vinceró. In sieben Monaten ist Bundestagswahl und Merkel will noch einmal Kanzlerin werden, zum vierten Mal dann. Aber im ARD-Deutschlandtrend hat Ende der Woche die SPD erstmals seit zehn Jahren die CDU überholt,  Schulz liegt schon ein paar Wochen vor Merkel. Plötzlich scheint es eine Alternative zu geben zu der so lange Zeit unbesiegbar scheinenden Kanzlerin. „Wir müssen jetzt in die Offensive“, hat der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak, gerade in der Bild-Zeitung gefordert. „Wir müssen jetzt auf Angriff schalten“, stimmte der Chef des Wirtschaftsflügels, Carsten Linnemann, ein. Bundestagswahl, davor im März und im Mai drei Landtagswahlen. Und Schulz tourt durchs Land. Merkel hat ihn bisher zur Kenntnis genommen. Recht viel mehr hat sie nicht getan.
Sie ist in dieser Lage in ihren Wahlkreis im äußersten Nordosten der Republik gefahren, nach Hause gewissermaßen, zumindest in die politische Heimat.

Hier in Stralsund hat sie ihr Wahlkreisbüro, hier hat sie seit 1990 das Direktmandat für den Bundestag geholt, siebenmal in Folge. Wenn es irgendwo etwas Nestwärme gibt für eine Kanzlerin, dann ist das vermutlich hier. Auch wenn die Termine länger stehen als Martin Schulz Kandidat ist – es passt gerade ganz gut.

Klingt nach Trump, ist aber Lehár

Merkel hat zu einem Neujahrsempfang geladen, wie jedes Jahr. Parteifreunde, Unternehmer, Verbandsvertreter versammeln sich im Festsaal einer Brauerei am Stadtrand. Der Saal erinnert an einen Segelschiffsrumpf: ein halbes Oval, holzverkleidet, Netze an den Decken, und – nicht ganz so maritim, mehrere silberfarbene Diskokugeln. Es gibt viel Essen, und davor zunächst einige Arien. Ein Tenor, eine Sopranistin und ein Klavierspieler an einem schwarzen Flügel.

Und zwischendurch eine Merkel-Rede, ein bisschen wie ein Begleitprogramm zur Musik. „Gern hab ich die Frau’n geküsst“, singt der Tenor. „Hab’ nie gefragt, ob es gestattet ist.“ Klingt nach Donald Trump, ist aber vom Operettenkomponisten Franz Lehár.
Dann ist Angela Merkel an der Reihe. Sie lobt erst die Biere des Hauses, die Preise gewonnen haben. Sie freut sich darüber, dass die Brauerei sich in den Westen ausgebreitet hat, als Caterer des jüngsten deutschen Prestigeobjekts schlechthin, der Elbphilharmonie. „Solche Erfolgsgeschichten brauchen wir“, sagt sie, selbst eine Erfolgsgeschichte. „Du bist das Beste, was Deutschland und Europa passieren konnte“, hat der Landrat sie gerade gelobt. In diesem Moment nimmt es das Eckchen am Rande der Republik, mit dem Rest der Welt auf, ganz locker.

Die Werft, lange von Schließung bedroht, soll nun doch wieder weiterbauen. Luxus-Kreuzfahrtschiffe made in Stralsund, das bedeutet Arbeitsplätze. Der Bürgermeister schwärmt gerne vom Bevölkerungswachstum der Stadt. Über Merkel wird eine rote Fahne mit einem weißen Piratenschiff an die Wand geworfen, das Logo der Brauerei. Es könne ein ausgelassener Abend werden. Und Merkel zeigt wirklich eines ihrer fröhlicheren Gesichter.

Aber dann kommt die Rede.

Es geht um Russland, um die ländlichen Räume, um Sicherheitspolitik, Digitalisierung und Europa. Der Ton ist munter, aber wenn man die Sätze durchsiebt, bleiben  solche Vokabeln hängen: Verunsicherte Menschen, verschwundene Gewissheiten, Bedrohungen, Sorgen, Unwohlsein. „Wir müssen das aufnehmen“, sagt Merkel immer wieder. Scherze und ironische Bemerkungen erlaubt sie sich kaum. Und dass sie wieder Kanzlerin werden will, sagt sie auch nicht an diesem Abend.

Jetzt gibt es Kampfkandidaturen

Dafür ist der nächste Tag da. Selber Ort, andere Deko. Die Piratenflagge ist verschwunden, ersetzt durch das CDU-Logo. Die langen Tische sind um 90 Grad gedreht, sie stehen nun wie Schulbänke vor der Bühne. Die Mecklenburg-Vorpommern-CDU stellt ihre Landesliste für die Bundestagswahl auf. Beim letzten Mal, bei der Wahl im Jahr 2013, hätte es das streng genommen gar nicht gebraucht.

Die CDU kam bundesweit nahezu auf die absolute Mehrheit, in Vorpommern sicherte sie sich alle sechs Direktmandate. Jetzt ist die Sache nicht mehr so sicher. Bei der Landtagswahl vor einem halben Jahr überholte die AfD die CDU. Die Partei der Kanzlerin kam in deren Heimat nur auf den dritten Platz. Der damalige AfD-Spitzenkandidat, der redegewandte ehemalige Radiomoderator Leif-Erik Holm, konkurriert nun bei der Bundestagswahl mit Merkel um das Direktmandat.
„Die Bundestagswahl wird kein Selbstläufer werden. Einen Wahlkampf im Schlafwagen können wir uns nicht erlauben“, sagt Landes-Parteichef Lorenz Caffier. Bei der Listenaufstellung gibt es schon um Platz 4 eine Kampfkandidatur.
Entspannt bleiben?

Der Bundestagsabgeordnete Eckhardt Rehberg empfiehlt: „Immer ganz entspannt“, solle man bleiben. „Wir sollten uns von den Umfragen nicht kirre machen lassen.“ Dann warnt er lieber doch, in einer rot-rot-grünen Bundesregierung könne die Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht Finanzministerin werden und der Grünen-Fraktionschef Toni Hofreiter Landwirtschaftsminister.
Die Delegierten raunen. Landeschef Caffier bezeichnet Schulz als „Gurkenvermesser aus Brüssel“ und als „Funktionär, der wie kein anderer für das verkrustete, bürokratische Europa steht“. Er erwähnt Gelder, die Schulz zusätzlich zu seinem Gehalt als EU-Parlamentspräsident erhalten haben soll. Er ruft: „Schluss damit, dass wir uns von den Asylbetrügern an der Nase herumführen lassen.“ Er wettert gegen „linke Moralapostel“, die Minderheiten mehr schützten als Mehrheiten und beschwert sich, man müsse sich „nicht entschuldigen, seit 30 Jahren mit der gleichen Partnerin zusammenzuleben“.

Da ist sie, die Attacke, zumindest eine Form davon.

Merkel wählt eine andere, nüchternere. Eine auch, die zwar nicht ohne SPD, aber ohne den Namen ihres direkten Widersachers Schulz auskommt. „Spannende Tage“ stünden bevor, stellt Merkel fest.
Aber immerhin weiß sie genau, wie viele. 211 bis zur Bundestagswahl sind es an diesem Tag. In der CDU-Zentrale in Berlin hält man nicht allzu viel von direkten Attacken auf den SPD-Kanzlerkandidaten. Aber irgendwie reagieren muss man wohl doch einmal, versuchen, den anderen die Themenhoheit zu nehmen.

Gerechtigkeit, darum geht es

Gerechtigkeit, die hat die SPD als großes Thema gesetzt. Schulz hat gerade angekündigt, bei einem Wahlsieg die Agenda 2010 zu korrigieren. Merkel versucht es mit zwei Gegenbegriffen: Zukunft und Sicherheit. Und sie versucht der Anti-Agenda-Begeisterung etwas entgegenzusetzen. „Das war gut für die Menschen“, sagt sie und lobt Gerhard Schröder, ihren sozialdemokratischen Vorgänger, der die Agenda umgesetzt hat und letztlich am Widerstand dagegen gescheitert ist. Die Ankündigung von Schulz ist auch eine späte Reaktion auf Schröders Wahlniederlage 2005.

Merkel sagt, die SPD halte sich nur mit der Vergangenheit auf. Sie ignoriere, dass die Agenda zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands beigetragen hat, zu einer Halbierung der Arbeitslosigkeit auch. „Sie schämen sich dafür“, kritisiert Merkel. Der Applaus bleibt verhalten. In Vorpommern liegt die Arbeitslosenquote doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt.
Merkel spricht also auch noch über „mehr Arbeitsplätze in Stadt und Land“, darüber, dass die Digitalisierung da helfen könne. Eine Agenda 2025 fordert sie – Stichwort Zukunft, statt Vergangenheitsbewältigung. Ein Gegensatzpaar für den Wahlkampf.

Wer ist das Volk?

Ein weiteres Gegensatzpaar – CDU und CSU – befördert sie, indem sie die Forderung der Schwesterpartei nach weiteren Verbesserungen bei der Mütterente ablehnt. Man wolle sich auf die Förderung junger Familien konzentrieren.
Die Flüchtlingspolitik, dem Grund für den langen Zwist, erwähnt Merkel fast wie einen Nebenaspekt, es ist ein komplett anderer Ton als der des Landespolitikers  Caffier. Sie verteidigt die Flüchtlingsaufnahme: „Wir haben humanitäre Verantwortung gezeigt. Wir können stolz darauf sein.“ Es gehe nun ums Steuern und Ordnen. Sie spricht nicht von Abschiebungen, sondern von denen, die „das Land verlassen müssen“. Und sie fügt hinzu: „sofern dies verträglich und möglich ist“.  
Sie braucht ein Rezept, um die CDU zu mobilisieren, die CSU bei Laune, die SPD in Schach und die AfD klein zu halten. Zur Konkurrenz von Rechts wird sie grundsätzlich. Offenheit und Vielfalt des Landes müssten verteidigt werden. Den Pegida-Rufen „Wir sind das Volk“ hält sie entgegen. „Das Volk ist jeder, der in diesem Land lebt.“

Auf die Frage nach einer Wendestimmung hat sie bei einer ihrer Stralsunder Veranstaltungen ein geschicktes Bild gewählt: „Beim Segeln bestimmt nicht der Wind die Richtung, sondern der Steuermann.“
Die Delegierten wählen Merkel dann mit 95 Prozent auf Platz 1 ihrer Liste. Sieben der 140 Delegierten stimmen mit Nein.

Am Sonntag gibt es wieder neue Umfragen. Die SPD fällt wieder leicht zurück. Sie liegt jetzt gleichauf mit der Union.