Analyse Analyse: Das Leben des Totenkopfes
Berlin/MZ. - Wenige Kilometer westlich von Kiel sucht die Polizei seit gut zwei Wochen in einem sehr großen Heuhaufen nach einer Stecknadel. Im Altenholzer Gewerbegebiet Lehmkaten, einen Abschlag entfernt vom noblen Golfclub Uhlenhorst, haben die Beamten eine anthrazitfarbene Lagerhalle abgesperrt. Seit zwei Wochen kommen auf dem Gelände Betonsägen, Asphaltfräsen, Schaufelbagger zum Einsatz. Experten des Beweissicherungsteams wuchten weiße Kisten mit Schutt und Erde auf Förderbänder. Wie Goldgräber im Klondike sieben und rütteln und waschen die Männer den Mutterboden. Das kann noch Tage so gehen. Oder Wochen. Wann sie etwas entdecken, weiß niemand. Was sie suchen, weiß jeder: einen Zahn, einen Knochen, irgendeinen Beweis, dass hier in Altenholz vor zwei Jahren eine Leiche verscharrt wurde. Für die Polizei wäre es der bislang größte Triumph im Kampf gegen einen mächtigen Feind. Aber auch nach zwei Wochen hat sie noch nichts gefunden. Nun sorgen sich die Ersten um die Statik der unterhöhlten Halle. Der Mann, der die gewaltige Suchaktion ins Rollen brachte, sitzt am Dienstag vergangener Woche in Saal 123 des Kieler Landgerichts und plaudert mit der allergrößten Selbstverständlichkeit über Mord und Totschlag. Steffen R. ist 40 Jahre alt, aber er hat das pausbäckige Gesicht eines pubertierenden Rotzlöffels. Die Haare kurz geschoren, einen Knopf im linken Ohr sitzt er da und hat auf jede Frage eine Antwort. Er beugt seinen wuchtigen Körper nach vorne, wippt mit den Beinen und schiebt so, ohne es zu merken, den Angeklagtentisch immer näher heran an den Staatsanwalt. Immer wieder blickt er durch Panzerglas in den Zuschauerraum, so als erwarte er von dort Applaus oder wenigstens Bestätigung. Es fällt nicht leicht, sich Steffen R. als Chef einer brutalen Rockergang vorzustellen.
Als das Gerichtsverfahren gegen R. im November vergangenen Jahres begann, war es nur einer von etlichen Rockerprozessen, die Monat für Monat vor deutschen Richtern landen. Der Vorwurf der Anklage: Menschenhandel, Zuhälterei, räuberische Erpressung, schwere Körperverletzung - das Übliche. R., Chef einer militanten Hells-Angels-Putzkolonne namens "Legion 81", schwieg. Monatelang. Bis Februar. Da entdeckte der Biker mit dem Bubengesicht seinen Hang zum Plaudern- und tischte staunenden LKA-Ermittlern fortan eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen auf. Er berichtete von kaltblütigen Exekutionen im Milieu, von Drogen- und Waffengeschäften, er nannte Namen und Orte, er tat, was unter Rockern als Hochverrat gilt: Er packte vor den Bullen aus. Und weil diese seine Aussage für "hoch glaubwürdig" halten, setzte er damit eine Maschinerie in Gang, die ihresgleichen sucht.
1 200 Polizisten rückten kurz vor Pfingsten aus, um im Rockermilieu von Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen Tabula rasa zu machen. Seither vergeht in ganz Deutschland kaum ein Tag ohne Großrazzia unter Zweiradfreunden. In Berlin und Potsdam, in Krefeld, Solingen und Willich machten Einsatzkommandos den Hells Angels das Leben zur Hölle. Aber nicht nur diesen: Am Donnerstag erwischte es in Brandenburg und Berlin die großen Rivalen der Hells Angels: 1 000 Beamte filzten Dutzende Wohnungen und Treffpunkte der nicht minder gefürchteten Bandidos. Selten zuvor ging die Staatsmacht so konzertiert gegen Rocker vor. Offiziell heißt es, die einzelnen Razzien hätten nichts miteinander zu tun. Aber man darf das bezweifeln. Nachdem sie jahrelang dem Treiben der klandestinen Kuttenträger weitgehend machtlos zusehen mussten, wittern die Ermittler nun endlich ihre große Chance, den Spuk zu beenden. Sie setzen dabei größte Hoffnungen auf ihren Kronzeugen: Steffen R.
Was genau dieser seinen Vernehmern anvertraute, davon konnte sich im Landgericht Kiel in den vergangenen zwei Wochen auch die Öffentlichkeit ein Bild machen. Folgt man dem schwergewichtigen Rocker, den sie in der Szene "Kugelblitz" nennen, dann sind die Hells Angels so etwas wie McDonald's: ein Großunternehmen, das unter einem identischen Regelwerk internationale Ableger bildet - nur dass seine Angestellten kein Hackfleisch braten, sondern mit Waffen, Frauen, Drogen handeln und auch sonst jeder Idee zum Geldverdienen aufgeschlossen gegenüberstehen. Er selbst, so der gelernte Koch Steffen R., habe Frauen zu Prostituierten gemacht und dabei, womöglich, "ausgenutzt". Er habe auch "Hausbesuche" bei Abtrünnigen oder Rivalen abgehalten. "Ich bin natürlich keine Friedenstaube gewesen. Wenn es Theater gab, habe ich mit reingehauen". Und nicht nur das. Einmal sei seine Legion 81 angewiesen worden, die Gründung eines Bandido-Clubs in Preetz zu verhindern. Man habe dann auf den designierten Chef einen Warnschuss abgegeben - die Sache mit der Neugründung war danach erledigt. "Und wenn nicht?", fragte R.s Richter. "Dann wäre der Auftrag erfolgt, auf ihn zu schießen."
Nie aber, so R., hätten er oder sein Club eigenmächtig gehandelt. So, wie die Legion immer nur Befehle von den Kieler Hells Angels ausgeführt habe, seien diese wiederum "von oben" instruiert worden. Von einer klaren militärischen Hierarchie sprach der Angeklagte. Jedes Hells-Angels-Chapter und jeder Supporter-Club bekomme exakte Vorgaben, was zu tun und wie viel Geld pro Monat zu erwirtschaften sei. Wer davon abweiche, ja, wer nur die falschen Klamotten trage oder beim falschen Schlüsseldienst vorstellig werde, müsse Strafgeld zahlen - mal 500, mal 5 000 Euro. Und derjenige, der am oberen Ende der Befehlskette säße, sei niemand anderes als Frank Hanebuth. Frank Hanebuth. Kein anderer Name dürfte die Ermittler der Soko "Rocker" derart elektrisiert haben wie der des berüchtigten Präsidenten der Hannoveraner Hells Angels. Der bullige Glatzkopf aus Niedersachsen gilt Fahndern seit vielen Jahren als Kopf aller deutschen Angels. Dass der Mann, der sich bester Kontakte in die Politik und die High Society an der Leine rühmt, unter den Kuttenträgern eine herausragende Rolle spielt, ist unstrittig. So schloss etwa Hanebuth 2010 für die Angels einen so genannten Waffenstillstand mit den Bandidos, der umgehend wieder brach. Aber dass der Mann, der auch drei Jahre im Knast saß, tatsächlich der oberste Befehlshaber der Hells Angels ist, konnte bisher nie bewiesen werden.
Steffen R. - wenn er denn die Wahrheit sagt - könnte das ändern. Und womöglich eine wasserdichte Begründung liefern für ein deutschlandweites Verbot der Männer mit dem Totenkopfabzeichen. Hanebuth, behauptet R., habe mehrere Morde in Auftrag gegeben. So auch den an Tekin B., der im April 2010 spurlos verschwand. Auf ihn hätten Kurden seinerzeit ein Kopfgeld ausgesetzt, so R., und Hanebuth habe kassieren wollen. Mehrere Stunden lang hätten seine Ex-Kumpane den Türken gefoltert, danach erschossen und schließlich im Fundament der neu zu bauenden Lagerhalle in Altenholz versenkt. Über B.s "Seehundröcheln" vor seinem Tod werde unter den Hells Angels noch heute herzlich gelacht, sagt R. Die "Endentscheidung" zu seiner Exekution habe Hanebuth getroffen. Für ihn und seine Bruderschaft könnte es brenzlig werden, sollte man in der norddeutschen Erde wirklich menschliche Knochen finden.
Dass es so kommen wird, daran hat "Django" seine Zweifel. "Django" - bürgerlich Rudolf Triller - ist so etwas wie der Pressesprecher der deutschen Hells Angels. Der eloquente Mann vom Bremer Westside-Charter ist seit 34 Jahren aktiver Rocker - von den paar Jahren mal abgesehen, als er wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Gefängnis saß. "Django" hat in diesen Tagen alle Hände voll zu tun, aber wenn man ihn darum bittet, ruft er zuverlässig zurück. Dann erzählt er, dass dieser Steffen R. ein Lügner und Scharlatan sei, den weder Hanebuth noch er kennen würden. Es sei zwar "vorstellbar, dass der mal im selben Raum war wie wir, bei einer Party oder so". Aber von einer Befehlskette, einem Mordkomplott gar könne R. schon allein deshalb nichts mitbekommen haben, weil dergleichen nicht existiere. "Es gibt keine Dachorganisation und keinen übergeordneten Befehlshaber", sagt "Django". Was in Kiel derzeit geschehe, sei vielmehr ein durchschaubares Konstrukt der Staatsmacht, eine "hinterhältige Volksverhetzung" mit dem Ziel, die Hells Angels zu kriminalisieren. Wenn stimme, was über ihn und seine Kumpane geraunt werde, hätte man doch schon 40 Jahre Zeit gehabt, den Club als kriminelle Vereinigung abzuurteilen. "Wir bitten darum: Klagt uns an, stellt uns vor ein Strafgericht", höhnt "Django". "Das wird aber nie passieren. Weil die Beweise fehlen. Die. Beweise. Fehlen!" Kurz vor Gesprächsende lädt er noch dazu ein, sich bei nächster Gelegenheit mal einer Rocker-Ausfahrt anzuschließen. Dann könne man sehen, wie ernst es die Hells Angels mit ihren vier Grundwerten "Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Respekt und Freiheit" meinen.
Alles ein großes Missverständnis also? Das sehen die Behörden in den Bundesländern anders. Dort beobachtet man seit Jahren mit Sorge, wie sich die Rockerszene immer weiter ausbreitet. Gab es etwa in Berlin zur Jahrtausendwende gerade mal 100 bekannte Kuttenträger, sind es aktuell mehr als 1 000. In Brandenburg wuchs die Zahl von 260 im Jahr 2010 auf inzwischen 420. In Nordrhein-Westfalen geht man heute von 900 Rockern aus, doppelt so viele wie noch vor sieben Jahren.
Alles in allem, so das Bundeskriminalamt, brächten es die vier großen Clubs - neben Hells Angels und Bandidos sind das der MC Gremium und die Outlaws - auf etwa 3 500 Mitglieder. Tendenz steigend. Wohl nicht ganz zufällig geht damit eine wachsende Deliktzahl im Drogen- und Rotlichtmilieu, beim Waffenhandel und bei schwerer Körperverletzung einher. Allein in diesem Jahr prozessierten Gerichte in Aurich, Jever, Erfurt, Bamberg, Kaiserslautern, Bremen, Baden-Baden, Rottweil, Frankfurt (Oder), Kiel gegen Rocker. Was aber stimmt: Oft fehlen die für eine Verurteilung nötigen Beweise. So endete etwa im Januar ein spektakulärer Prozess in Frankfurt (Oder) mit einem Freispruch. Es ging in der Verhandlung um eine wilde Verfolgungsjagd, die sich Hells-Angels- und Bandido-Supporter im Juni 2009 in Finowfurt geliefert hatten. An deren Ende steckte einem der Angels ein Messer im Rücken, einem anderen war der Oberschenkel mit einer Machete gespalten worden. Der Polizei berichteten die Opfer von einem "Verkehrsunfall", auch vor Gericht schwiegen sie. Der mutmaßliche Täter konnte daher als freier Mann aus dem Landgericht spazieren. Dabei wird ihm sicher nicht geschadet haben, dass er vor Prozessbeginn zu den Hells Angels übergetreten war.
Unter Ermittlern hebt so etwas nicht eben die Stimmung. Dazu kommt, dass auch in den eigenen Reihen das Interesse an der Verfolgung von Rockerkriminalität durchaus unterschiedlich ausgeprägt ist. Als Beamte etwa in Berlin Anfang Juni einen Hells-Angels-Club stürmten, fanden sie diesen verlassen vor - seither wird geprüft, ob der Tippgeber aus Polizeikreisen stammte. Es wäre nicht das erste Mal. In Schleswig-Holstein ermittelt das LKA im Zuge des aktuellen Verfahrens auch gegen einen Polizisten, einen Gefängniswärter und einen Mitarbeiter der Stadt Kiel. Bei der Großrazzia Ende vergangener Woche in Brandenburg stießen Beamte zudem auf einen alten Bekannten: Der Bandidos-Präsident, den sie festnahmen, war früher selbst Polizist und soll noch beste Kontakte zu Ex-Kollegen haben. "Das Männlichkeitsbild von Rockern finden wir manchmal leider auch bei jungen Polizisten wieder", sagt ein erfahrener Ermittler. Es könne halt sein, dass man sich "in der Muckibude" oder beim Kampfsport über den Weg laufe und anfreunde. "Da fehlt manchem die Sensibilität". Und manchmal helfen wohl auch andere Argumente: In Kiel jedenfalls berichtete Ex-Legionär Steffen R., manche Kumpane seien darauf spezialisiert, sich Polizisten mit Geschenken, kostenlosem Sex, zur Not auch kleinen Erpressungen gefügig zu machen. Kein Wunder, wenn der eine oder andere Beweis verschwindet.