Handwerk Handwerk: Seit fünf Generationen produziert Familie künstliche Augen

Wiesbaden/dpa. - Kein flüchtiger Blick wird erkennen, dass der Rentnerein Glasauge trägt. Weniger als eine Stunde brauchen die Mitarbeiterder Firma «F. Ad. Müller Söhne - Institut für künstliche Augen», umein Glasauge zu fertigen. Bei den letzten Arbeitsschritten sitzt derKunde einäugig daneben, während in der Flamme des Brenners aus einerweißen Röhre und vielen bunten Glasstäbchen eine individuelleProthese entsteht.
Auch wenn der Beruf des «Augenkünstlers» überaus selten ist - inWiesbaden lebt eine ganze Familiendynastie davon. Die Firma F. Ad.Müller Söhne existiert bereits in der fünften Generationen - und dieheutigen fünf Chefs tragen allesamt den Namen Müller-Uri. Jan Müller-Uri (42) führt das Unternehmen zusammen mit seiner Schwester, zweiGroßonkeln und seinem Großcousin. Mit 14 Ocularisten gehören dieMüller-Uris zu den größten in dieser kleinen Branche. Zu denprominentesten Kunden zählt TV-Moderator Frank Elstner.
«Es gibt 24 Betriebe und vielleicht 60 oder 70 Ocularisten inDeutschland», weiß Christoph Weidner, Vorsitzender des vielleichtkleinsten Berufsverbandes Deutschlands, der Deutschen OcularistischenGesellschaft (DOG). Weidner (47) ist Augenkünstler in Hamburg undkennt fast alle seine Berufskollegen persönlich, «mit den meisten binich per Du.» Selbst in guten Jahren wird nicht mehr als ein einzigerLehrling fertig. Die Ausbildung dauert harte sechs Jahre, früherwaren es sogar sieben.
Die Kunst des Ocularisten besteht darin, die komplizierte Strukturder Iris möglichst lebensecht nachzuahmen. Das hinzukriegen ist ehereine Kunst als ein Handwerk, und genau da liegt der Reiz, sagt UlrichMüller-Uri: «Man kann mit diesem Beruf Menschen helfen, und zugleichist es eine künstlerische Tätigkeit.» Obwohl er schon 68 Jahre altist, geht er noch immer täglich in die Firma. «Ich mach eben gernIriden», sagt er fast entschuldigend und beugt sich wieder überseinen Werktisch.
Die Arbeit an einem Glasauge beginnt mit einer milchigweißenRöhre, die aussieht wie eine Neonlampe. Aus ihr bläst er eine Kugel,die in der Mitte einen schwarzen Punkt für die Pupille bekommt. Dasdauert heute ein paar Sekunden, «aber man braucht ein Jahr bis manlernt, eine solche Kugel zu blasen.» Das Material für die Iridenlagert nach Farben sortiert in kleinen Metallkästchen. Müller-Urigreift zu der blauen und zieht ein dünnes Glasstäbchen heraus. Ausder Nähe betrachtet besteht es aus vielen miteinander verdrehtenGlasfäden mit unterschiedlichen Farbnuancen.
In einer 1300 Grad heißen, blauen Brenner-Flamme wird die glühendheiße Spitze zum Malstift. X-mal strichelt der Ocularist mitverschiedenen Stäbchen über die Pupille hinweg, bis die Mischung derFarben die Iris so realistisch wie möglich erscheinen lassen. Eineganze Wand des Zimmers füllen Schubladen und Setzkästen mit braunen,blauen, grünen und grauen Augen in allen Größen, Helligkeitsstufen,Farbverläufen und Schattierungen. Rund 3000 Stück hat die FirmaMüller Söhne stets vorrätig.
Was der Laie leicht für die fertigen Glasaugen halten könnte, istallerdings nur ein Vorprodukt. Denn jede Prothese wird persönlichangepasst. Jan Müller-Uris erster Kunde an diesem Morgen ist einalter Bekannter. Helmut Rückert trägt seit Jahrzehnten ein Glasauge.Sein linkes Auge verlor er mit 16 Jahren beim Hockeyspielen, 1949bekam er bei Müller-Söhne sein erstes Glasauge angepasst. Wie alleGlasaugenträger bekommt Rückert einmal im Jahr eine neue Prothese.250 Euro kostet das die Krankenkasse.
«Das Salz in der Tränenflüssigkeit greift die Oberfläche desGlases an», berichtet sein Ocularist. «Das ist wie bei Weingläsern inder Spülmaschine.» Der 73-jährige nickt: «Dann geht das Lid nichtmehr richtig zu, das Auge beginnt zu tränen und zu jucken.»Normalerweise nehme er das künstliche Auge gar nicht wahr, erzähltder Bankbetriebswirt aus der Nähe von Darmstadt. Nachts nimmt er seinGlasauge heraus und legt es auf den Nachttisch.
Mit einem Plastikstöpsel zieht Müller-Uri Rückerts altes Glasaugeaus der Höhle. In der Hand hält er nicht etwa eine Kugel, sonderneine am Rand gewellte Scheibe. Mit geübtem Auge wählt Müller-Uri ausdem Iriden-Sortiment im Nebenraum die drei ähnlichsten aus, hält sievergleichend an Rückerts gesundes Auge und wählt eines aus, das ernun für Rückert innerhalb von 20 Minuten maßschneidern wird.
Im Brenner erhitzt er das derzeit noch rund Glasauge und bringtzugleich farbige Glasstäbchen zum Schmelzen. Mit diesen «Stiften»zeichnet er mit geübten Schwüngen haarfeine Äderchen auf das Weiß desAuges. «Wenn es zu viele sind, sieht das Auge krank aus, wenn es zuwenige sind, sieht es künstlich aus», erklärt der Meister. Am Endeschneidet er mit dem Flammenstrahl entsprechend der Form derAugenhöhle die individuelle Kontur der Prothese aus der Kugel heraus.
Noch zehn Minuten Abkühlen, dann ist Rückerts neues Auge fertig.Doch die wenigsten Kunden kommen selbst in das Jugendstilhaus mit denFlügeltüren und den Stuckdecken. Die Ocularisten der Firma F. Ad.Müller Söhne sind viel unterwegs. Sie bereisen 60 Städte in achtLändern, um den Kunden ihre Kunstaugen vor Ort maßzuschneidern. «Nurvom Einzugsgebiet hier könnten wir nicht leben», sagt Jan Müller-Uri.
Die reisenden Augenmacher sind stets mit drei Koffern unterwegs,berichtet er. In dem einem sind die Augen, in dem zweiten dasArbeitswerkzeug für die Anpassung einschließlich Bunsenbrenner und imdritten das persönliche Gepäck.
Wie viele Menschen ein künstliches Auge tragen, ist unklar.Weidner, der Vorsitzende des Berufsverbandes, schätzt den Anteil aufweit weniger als ein Promille der deutschen Bevölkerung. Autounfällesind als Ursache stark zurückgegangen, seit Sicherheitsgurte undAirbags eingeführt wurden. «Früher hatten wir hier jede Woche einensitzen, der durch die Windschutzscheibe geflogen war», erinnert sichJan Müller-Uri. Heute sind Tumore die häufigste Ursache für denVerlust eines Auges.
Als seine Familie vor rund 150 Jahren ins Glasaugengewerbeeinstieg, bescherten Schuss- und Stichverletzungen in Duellen undKriegen den «Augenkünstlern» die meisten Kunden. Zu jener Zeit wurdenGlasaugen ausschließlich aus Italien importiert. Mitte des 19.Jahrhunderts entdeckte ein Würzburger Unternehmer die Marktlücke undsuchte nach einem Glasbläser als Partner.
Fündig wurde er im thüringischen Lauscha bei Ludwig Müller-Uri(1811-1888), der als Pinior der deutschen Augenprothetik gilt.Allerdings hatte der bis dato nur Glasaugen für Tiere hergestellt.Fünf Jahre lang experimentierte Ludwig herum, entwickelte unteranderem eine Glasmischung, die sich besser mit der menschlichenTränenflüssigkeit verträgt. Als das Geschäft wuchs, stellte er seinenNeffen Friedrich Adolph als Lehrling ein. Dieser gründete 1860 seineeigene Firma in Lauscha, zehn Jahre später zog er auf Betreiben desLeiters der hiesigen Augenheilanstalt nach Wiesbaden um.
Seit Ludwig Müller-Uris Zeiten hat sich die Technik derGlasaugenherstellung kaum verändert. Einzige nennenswerte Innovationder vergangenen hundert Jahre war es, die Prothese doppelwandig zumachen, damit sie die Augenhöhle besser ausfüllt. Eine Maschinekönnte diese Arbeit nicht machen, glaubt Jan Müller-Uri. «EineMaschine macht eine Million gleiche Augen, aber wir brauchen 100 000unterschiedliche.»
Auch Kunststoff konnte sich als Alternative zu Glas niedurchsetzen. Trotzdem ist die Firma F. Ad. Müller Söhne auch hieraktiv. Für Kunststoff-Augen zuständig ist Nikolaus Müller-Uri (36).Das Herstellungsverfahren ist völlig anders: «Meine Arbeit ähnelteher einem Zahntechniker als einem Glasbläser», erklärt Nikolaus. Fürein Auge braucht er rund drei Tage. Das macht das Verfahren so teuer,dass die Kassen es nur bei Kindern und Behinderten bezahlen.
Auch wenn die Firma F. Ad Müller Söhne insgesamt 20 Menschenernähren kann - eine Wachstumsbranche ist das Augenmachen nicht, dasweiß auch Jan Müller-Uri, wie er mit seinem etwas schwarzen Humordurchblicken lässt: «Wenn wir expandieren wollten, müssten wir schonein paar Messerstecher engagieren.»