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Der erste Schwulenfilm der DDR Der erste Schwulenfilm der DDR: Premiere gefeiert während Mauer fiel

Von Steven Geyer 06.11.2014, 21:14
Matthias Freihof als Philipp (li.), Dirk Kummer als Matthias in „Coming Out“ von Heiner Carow
Matthias Freihof als Philipp (li.), Dirk Kummer als Matthias in „Coming Out“ von Heiner Carow defa-stiftung Lizenz

Berlin - Es ist ja doch alles gut gegangen, muss Dirk Kummer zugeben. Aber in jener Novembernacht 1989 war das kein bisschen sicher, sagt er und zuckt mit den Schultern, weil das heutzutage fast unerhört klingt. Vielleicht ist ja dieser 25. Jahrestag die letzte Chance, der Erinnerung an den 9. November eine Fußnote hinzuzufügen: Eine ohne Sektkorken am Schlagbaum, dafür mit Zweifeln und Trotz – mitten in der wichtigsten Schwulenbar der DDR. Es ist die Geschichte von Dirk Kummer und seinen Weggefährten.

Der 9. November sollte ihre große Nacht werden: Ihr Film „Coming Out“ wurde vorgestellt – die aufregendste Filmpremiere der DDR seit Jahren! Kummer war 23, spielte eine Hauptrolle und war Assistent des Regisseurs Heiner Carow, der sich 1973 mit der „Legende von Paul und Paula“ ein Denkmal gesetzt hatte, zuletzt aber jahrelang von der SED ausgebremst wurde. Nun, gerade 60, meldete er sich mit einem Paukenschlag zurück: dem ersten Schwulenfilm der DDR.

Nach der Premiere gab es Ovationen, vor allem für Carows Signale von Wahrhaftigkeit: Als Hauptfigur ein schwuler Lehrer, der die Zwänge der autoritären Gesellschaft abstreift; Szenen mit Neonazis, Warteschlangen, Tristesse. Offene Worte auch im Publikum: „Das ganze Land braucht sein Coming-out“, sagte ein Gast. Die Intellektuellen, Reformer, Künstler applaudierten – sie wussten nicht, dass nebenan gerade der Schlagbaum auf der Bornholmer Brücke hochging. Die Mauer fiel.

Matthias Freihof, der die Hauptrolle des schwulen, zerrissenen Lehrers spielte, erinnert sich: „Mich hatte ein Fahrer von einer Vorstellung im Palast der Republik direkt zum Kino gebracht. Ich wusste von nichts.“ „Coming Out“ lobt Freihof, heute 52, als Zeitdokument für den Alltag der späten DDR: der melancholische Schleier des Stillstands, die neuen Rebellionen. Dirk Kummer sagt, er sei damals schon fertig mit diesem Staat gewesen, ging auf Montagsdemos, hatte in jener Nacht die Hunderttausenden von der Großdemo auf dem Alexanderplatz vor Augen. „Aber wir dachten auch: Falls das alles nicht klappt, hätten wir zumindest unseren Film. Der würde auf jeden Fall was ändern.“

Nach der Vorführung liefen im Fernsehen schon die Jubelbilder vom Kudamm. Das miefige Land, das der Film milde kritisiert, war nicht mehr dasselbe. Die Filmleute waren unsicher: Was waren ihre erkämpften Freiheiten noch wert? Sie blickten auf die Autoschlangen zur Grenze. Was nun? Regisseur Carow hatte ins Bierlokal „Burgfrieden“ im Prenzlauer Berg geladen, eine der wichtigsten Schwulenkneipen der DDR und Schauplatz des Films. Also: dorthin.

Der „Burgfrieden“ war eine Institution. „Auch ein Verdienst des Films“, sagt Freihof. „Er zeigt den homosexuellen Alltag in der DDR, der sich stark vom westdeutschen unterschied.“ Die Ost-Szene gab sich nicht schrill. Man richtete sich in der Nische ein, blieb diskret. „Heute denken viele Schwule im Osten melancholisch an diese kuscheligen Zeiten zurück.“

In jener Nacht herrschte im „Burgfrieden“ eine Stimmung zwischen Freude und Ungläubigkeit angesichts der neuen Lage. Nach viel Gemurmel, teils unter Tränen, entschieden sie sich: „Wir laufen nicht über, wir gehen nicht mal raus.“ Kummer zog es nicht nach West-Berlin: „Ich hatte ja keine Sehnsucht nach dem Kudamm, sondern nach Rom, Jerusalem, San Francisco!“ Von heute aus betrachtet saßen sie an einem Ort, den es bald nicht mal gegeben haben würde. Am Mauerfall-Gedenktag laufen immer Jubelbilder. Von Zweifeln in jener Nacht zu sprechen, klingt nach Stacheldraht.

Carow starb 1997, der „Burgfrieden“ schloss 2000. Aber „Coming Out“ gilt als Klassiker. Kummer und Freihof – beide als Regisseure und Schauspieler erfolgreich – reisen bis heute mit ihm um die Welt, zu Filmfesten in den USA, Kanada, Russland. Manchmal gab es dort Demos gegen die Homo-Ehe, in Russland wäre der Film heute verboten. „Das zeigt“, sagt Freihof, „wie relevant er immer noch ist.“ (mz)