Eine Sekunde, die alles verändert
Kemberg/MZ. - Die, die ihr zuhören, sind fast ebenso alt, wie der Sohn von Frau Neumann damals. Es geht um Fahranfänger, Unfälle und Unfalltod beim Projekt "Schocktherapie", mit dem sich die Zehntklässler der Sekundarschule Kemberg im Ethikunterricht befassen. Mit Frau Neumann und Polizeioberkommissarin Cornelia Dieke, die im Wittenberger Polizeirevier verantwortlich für Prävention und Öffentlichkeitsarbeit ist, hat sich Ethiklehrer Michael Winkler kompetente Unterstützung ins Boot geholt.
Gespräche, Filme, nachgestellte Unfälle wie der von Frau Neumanns Sohn und eben der Erlebnisbericht der Mutter, machen die Jugendlichen betroffen und nachdenklich. "Das muss eine sehr starke Frau sein, dass sie das so erzählen kann", meint Katharina Töpfer bewundernd. Die 17-jährige Schülerin aus Selbitz lauscht ebenso gebannt wir ihre Klassenkameraden Linda Kräter und Philip Hillich, die die Schilderungen der Pratauerin und ihre Geschichte darüber, mit dem Unfassbaren Leben zu lernen, "sehr beeindruckend und interessant" finden. "Es geht hier nicht um den erhobenen Zeigefinger", sagt Winkler. "Kein Lehrer oder Lehrbuch kann so etwas annähernd so rüberbringen, wie jemand, der solch einen Verlust selbst erlebt hat", weiß der Pädagoge.
"Für mich sind solche Gespräche mit Jugendlichen auch eine Möglichkeit, im Namen meines Sohnes zu helfen. Mut zu machen und zu lernen, mit den Gefühlen umzugehen, aber auch vor oft allzugroßem Leichtsinn zu warnen", erklärt Frau Neumann.
Se gründete 1995 in Wittenberg eine Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern, die ihr und anderen Betroffenen hilft, mit dem Schrecken umzugehen. "So ein tragisches Ereignis ist die Hölle - nicht nur für Eltern und Geschwister. Ich habe jahrelang nur funktioniert. Konnte weder für meinen jüngeren Sohn noch für die Kinder, die ich im Hort betreutem, richtig da sein", erzählt die Frau, die erlebt hat, dass auch die Freunde ihres Sohnes nicht wussten, wie sie mit dem Verlust umgehen sollen. "Für alle hat sich das Leben total verändert. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten: Aufgeben oder versuchen, irgendwie wieder hoch zu kommen", sagt Maritta Neumann und erzählt von den Momenten, die sie auch heute -13 Jahre nach dem Unglück - immer wieder einholen, und in denen sie sich mit den Geschehnissen auseinander setzten muss.
"Die Entscheidungen liegen immer bei ihnen selbst. Die eine Sekunde, in der sie alkoholisiert ins Auto steigen, die eine Sekunde, in der Sie wegschauen, wenn Freunde dies tun und die eine Sekunde, in der sie aufs Gaspedal treten und zu schnell fahren - diese Sekunde kann für Sie und ihr Umfeld einfach alles verändern", gab sie den Schülern, von denen viele schon bald selbst am Steuer sitzen werden, mit auf den Weg.