Wo Deutschland aufhört Wo Deutschland aufhört: Der verschwundene Stein
HALLE/MZ. - So heißt auch die Groß-Gemeindehier. Ihr Ortsteil Isenbruch istDeutschlands westlichstes Dorf.Felder und Wiesen dehnen sichlinks und rechts der Asphaltstraße,die Isenbruch westwärts verlässtund hinüber nach dem niederländischenNieuwstadt führt. Hier musser irgendwo sein, der Westpol.
Nach gut zwei Kilometern einsamerLandstraße sehe ich rechts dasblaue Schild: Nederland, umkränztvon zwölf Europa-Sternen. Rechtsdavon ein brusthoher Felsstein.Auf dessen Bronzetafel erhalte ichGewissheit: westlichster PunktDeutschlands. Rätsel gibt nur einPfeil darüber auf: Grenzstein 309Bsteht da geschrieben, der Pfeilweist nach links. Warum das so ist,erfahre ich später.
Links der Straße steht einsamDeutschlands letztes Haus im Westen,ein schicker Bau, wohl in den60ern hochgezogen. Kies knirschtauf dem Weg zum Haus, zwei Klingelschilder,zwei Haustüren. Linkssteht „Privat“, rechts „Praxis“. Danebensignalisiert ein großesSchild einen Ort, den man gernmeidet: „Zahnärztin“ steht da geschriebenund darüber: „Drs.K.J.W.A. Schnellen“. Deutschlandsletztes Haus im Westen ist eineZahnarztpraxis!
Sprechzeit ist nicht und so drückeich bei „Privat“ auf den Knopf undhabe Glück an diesem heißen, stillenSommernachmittag. Eineschlanke Dame ganz in Weiß trittmir entgegen, die Hausherrin. Ende50 schätze ich, später wird siemich verblüffen: Sie hat die 70 erreicht.Die Zahnärztin lässt sich aufmich ein, ohne Termin. Sie habeZeit, sagt sie, seit sie ihre Praxis anihre Tochter Katja übertragen hatund freut sich offenbar, dass sichda wer für Deutschlands äußertenWesten interessiert. Da kommtman an ihrem Grundstück nichtvorbei. K.J.W.A. ? Frau Schnellenlacht und klärt mich auf: „Ich heißeDoktor Katharina Johanna WilhelmineAnne Schnellen, herzlichwillkommen!“ Ob ich das West-Endehier schnell gefunden hätte, willsie wissen. Ich gebe zu, dass ich einigeAnläufe gebraucht habe.
Schlecht, schmunzelt K.J.W.A.,denn Deutschlands westlichsterPunkt ist akkurat im Navigationsgerätdrin. Ich mache mit ihr dieProbe aufs Exempel, und in der Tat:Haus Groevenkamp steht da alsStraßen-Adresse. Wir gehen hinauszu diesem Straßenschild, dasgenau betrachtet nur den Weg zuihrer Garage weist. Aber immerhin,sage ich, weder DeutschlandsSüdpol bei Oberstdorf im Allgäunoch der Nordpol am Ellenbogenauf Sylt haben eine eigene Navi-Adresse, und im Osten, in Zentendorf,ist das nicht anders.
Da will ich noch überall hin indiesem Sommer, sage ich zur Zahnärztini.R . Ach, sagt sie, schön,wenn man viel reisen kann. Sie bittetmich hinaus zu einer gut zwanzigMeter langen, exakt gestutztenHecke, die ihr Grundstück links begrenzt.„Kommen Sie, es gibt etwaszu sehen, was man beim Vorbeifahrennicht sieht!“Gerade als wir loslaufen, radelnzwei Herren Mitte 50 heran. Essind keine Einheimischen, dennsie haben ihre Räder für die großeTour mit reichlich Gepäck aufgerüstet.
„Da fahren jede Woche Leutewie die da hier lang“, sagt FrauSchnellen. Die zwei Fahrradfahrerknipsen sich am West-Stein. IngolfJacob und Wolfgang Nardmannsind vor Tagen in Oggersheim gestartetund dann vom Rhein aushierher abgebogen, „einfach nurgucken, wie es hier aussieht“.K.J.W.A. erweitert flugs ihr Angebotund lädt die Radler zur Grenzheckeein. Wie eine grüne Wand erhebtdie sich gut zweifünfzig hoch,ganz gleichmäßig, tiefgrüner Lebensbaum.
Zielstrebig geht FrauSchnellen auf eine Stelle zu undwinkt die beiden ran: „Drücken Siedoch hier mal die Hecke kräftigauseinander!“ Die beiden machendas, und auf tut sich der deutscheGrenzstein - fast unsichtbar zugewachsenvon dutzenden Heckenästen.Im Alltag spiele die Grenzehier keine Rolle mehr, sagt FrauSchnellen. Man lebt hüben, man arbeitetdrüben und umgekehrt. Sieblicke aber nicht ohne Sorge, erzähltsie den Gästen, auf die nachOsten geschobene EU-Außengrenze.Häufiger, glaubt sie jedenfalls,sehe sie weit gereiste fremde Menschenihr Haus passieren, „nachts,und da mache ich mir manchmal someine Gedanken“.
Die Grenzlinie an ihrem Haushat eine bewegte Vergangenheit,im wahrsten Sinne des Wortes.Denn über Jahrhunderte war dieGrenze an Deutschlands heutigemWestpunkt in Bewegung, mal RichtungWest, mal Richtung Ost. Bis1815, so gebe ich an der Hecke angelesenesWissen weiter, gehörteder Ort zum französischen KantonSittard. Nach dem Wiener Kongressvon 1815 kam die Gegend andie preußische Rheinprovinz. AmEnde des Zweiten Weltkriegs fordertendie Niederländer Gebietsentschädigungvon Deutschland.
Die Gegend - der Selfkant - geht1948 nach nebenan.Dort, in den Niederlanden, istFrau Schnellen geboren, Niederländerinist sie heute noch. Ungefährab 1960 weiß sie ganz genau,wie das mit der Grenze war, dennin den 60ern hat sie mit ihremMann hier gebaut. „Seit dem 1. August1963 gehört die Ecke hier wiederzu Deutschland“, erklärt sie.280 Millionen DM hat die Bundesrepublikfür diesen Deal gezahlt -und wieder wurden die Grenzlinienein wenig bewegt.
Das weiß auch Frau SchnellensNachbar, Sjoerd Craje, genau. Erbewohnt das erste Haus auf niederländischerSeite. Früher ging dieGrenze schon mal quer durchsHaus, ist zu hören. „Die Küche lagin Holland, die Stube in Deutschland.“Ein alter weißer Grenzsteinvor seinem Haus in der IjstraatNummer 13 erinnert daran, undauch auf Crajes Klo trifft man aufGrenzgeschichte.
Gefasst in zwei Goldrahmen undunter Glas sind hier Zeitungsartikelzu sehen, die sich mit demwechselnden Grenzverlauf beschäftigen.Die habe er vom Vorbesitzerübernommen, sagt der Solartechnik-Händler. Die Rahmen hängenheute eindeutig auf niederländischemGebiet. Nur einen schönerenPlatz, den hätten sie nun wirklichverdient.
Dann überquere ich mit Crajedie kleine Holzbrücke, die den RotenBach an der Rückseite des Gehöftsüberspannt, das ist der„Grenzfluss“. Da, sagt er und weistin Richtung der Hecke seiner deutschenNachbarin. Ich blicke aufDeutschlands westlichsten Punkt,freistehend, gut sichtbar. VomStaate präzise vermessen, trägt dersteinerne Vierkant die Nummer309B. Hier ist Deutschland nun vonAmts wegen zu Ende.
Bis zu K.J.W.A. Schnellens verwachsenemGrenzstein sind es keinefünf Meter über den Bach. Drübenbei ihr sorge die Grenzziehungauch heute noch für ein Kuriosum,erzählt mir die Zahnärztin zum Abschied.„Mein Grundstück liegthalb in den Niederlanden, halb inDeutschland. An beide muss ichSteuern zahlen!“