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WM-Historie: Mexiko 1970 WM-Historie: Mexiko 1970: Das Jahrhundertspiel gegen Italien

Von Ines Bellinger und Andreas Bellinger 06.03.2006, 15:18
Der deutsche Torjäger Gerd Müller (helles Trikot) wird von den italienischen Gegenspielern Roberto Rosato (Nr. 8) und Tarcisio Burgnich (2. v.r.) in die Zange genommen. Die italienischen Akteure Pierlugi Cera (l) und Mario Bertini (r, hinten) schauen zu. (Foto: dpa)
Der deutsche Torjäger Gerd Müller (helles Trikot) wird von den italienischen Gegenspielern Roberto Rosato (Nr. 8) und Tarcisio Burgnich (2. v.r.) in die Zange genommen. Die italienischen Akteure Pierlugi Cera (l) und Mario Bertini (r, hinten) schauen zu. (Foto: dpa) dpa

Hamburg/dpa. - Dielebenslustigen Mexikaner feierten bis zum Viertelfinale begeistertihre Mannschaft und jubelten danach Brasilianern und Deutschen zu.Während die Ballzauberer vom Zuckerhut ihren dritten Titel gewannenund den Siegerpokal, die «Goldene Göttin», für immer in ihren Besitznahmen, waren die Deutschen im Halbfinale Hauptdarsteller desverlorenen «Jahrhundertspiels» gegen Italien.

Dass es der Vize-Weltmeister von 1966 überhaupt so weit gebrachthatte, war einem genialen Schachzug von Bundestrainer Helmut Schön zuverdanken. Der gewiefte Sachse hatte allen Vorbehalten zum Trotz dieTorjäger Gerd Müller und Uwe Seeler gemeinsam spielen lassen. Derdamals schon 34-Jährige Hamburger agierte aus dem Mittelfeld heraus,der Bayern-«Bomber» produzierte im Sturmzentrum Tore am Fließband.Müller traf in allen Qualifikations- und Endrundenspielen - nur im«kleinen Finale» gegen Uruguay (1:0) nicht - und wurde mit zehnTreffern Torschützenkönig.

Die Vorrunde in Mexiko war für die mit Weltklasse-Torwart SeppMaier, Fußball-«Kaiser» Franz Beckenbauer und den AusnahmestürmernSeeler und Müller auftrumpfende Schön-Elf ein Pflichtprogramm. Nachden Siegen gegen Marokko (2:1), Bulgarien (5:2) und Peru (3:1) gab esdas ersehnte Viertelfinal-Duell mit England. In Leon sah es am 14.Juni zunächst aber nicht nach einer WM-Revanche für 1966 aus.

Die Engländer führten schon mit 2:0, als Sir Alf Ramsey einenfolgenschweren Fehler beging. In der 68. Minute wechselte er BobbyCharlton aus, um den 33 Jahre alten Spielmacher für das Halbfinale zuschonen. Doch Charlton musste in seinem letzten von 106 Länderspielenauf der Bank fassungslos mit ansehen, wie die Deutschen das Spielnoch drehten. Dem überragenden Beckenbauer gelang kurz nach CharltonsAuswechslung der Anschluss, zehn Minuten vor dem Ende erzielteKapitän Seeler sein legendäres Tor mit dem Hinterkopf, und die Partieging in die Verlängerung. Einmal mehr war dort Gerd Müller zur Stelleund sorgte dafür, dass Englands Kicker erstmals in 98 Jahren eine2:0-Führung noch aus der Hand gaben.

Den Deutschen waren im Halbfinale im 2000 Meter hoch gelegenenAztekenstadion von Mexiko-Stadt die Sympathien der 102 000 Zuschauersicher. Vor allem, weil sich die Italiener mit nur einem Tor insViertelfinale «gemogelt» und dort die Gastgeber durch ein 4:1ausgeschaltet hatten. Auch im Halbfinale stellten sie durch RobertoBoninsegna (8.) früh die Weichen auf Sieg. Fortan belagerten dieDeutschen das Tor der «Azzurri», die mit allen Mitteln ihrenVorsprung verteidigten. Beckenbauer verletzte sich schwer an derSchulter, biss jedoch die Zähne zusammen und ließ sich den rechtenArm vor die Brust bandagieren. Es dauerte bis zur letzten Minute, eheder beim AC Mailand spielende Karl-Heinz Schnellinger den Ball zum1:1 über die Linie spitzelte. Und das nur, «weil das italienische Torauf dem Weg zur Kabine lag», wie er später schmunzelnd behauptete.

Nun fing das Spiel der Spiele erst richtig an. Wie in Trance undfrei von allen taktischen Zwängen lieferten sich beide Teams bei 50Grad Hitze in der Verlängerung einen 30-minütigen Schlagabtausch mitnoch fünf Toren. Zwei Mal traf Müller (95./110.), die Italienerschlugen mit Tarcicio Burgnich (99.) und Luigi Riva (104.) zurück.Von Gianni Riveras 4:3 (111.) erholten sich die Schön-Schützlingenicht mehr. Doch 27 Jahre später erhielten auch die stolzen Verliererden Ritterschlag. Bei einer Umfrage der französischen Sportzeitung«L'Equipe» unter 50 internationalen Fußballstars wurde das WM-Halbfinale von 1970 zum «Spiel des Jahrhunderts» gekürt.

Das Endspiel am 21. Juni 1970 in Mexiko-Stadt fand trotz desScheiterns der DFB-Elf im Halbfinale mit deutscher Beteiligung statt.Überraschend wählte der Weltverband FIFA Rudi Glöckner alsSchiedsrichter für die Partie zwischen Brasilien und Italien aus. DerReferee aus Markranstädt bei Leipzig hatte die Vorrundenpartiezwischen Italien und Uruguay (0:0) souverän geleitet. Als erster DDR-Schiedsrichter überhaupt pfiff er bei einer WM-Endrunde, bei dererstmals Gelbe und Rote Karten eingesetzt und zwei Auswechslungenzugelassen wurden. Bis heute ist der inzwischen verstorbene Glöcknerder einzige deutsche Schiedsrichter, der ein WM-Finale leiten durfte.

Das Endspiel begann um 12.00 Uhr mittags, denn erstmals wurde eineWM so zielgerichtet vermarktet, dass die Fernsehzuschauer in Europazur besten Sendezeit auf ihre Kosten kamen. Doch die Gluthitze schienden Ballzauberern von der Copacabana nichts auszumachen. Sie hattenim Halbfinale ihre Kräfte geschont und sich beim 3:1 gegen Uruguaynach 20 Jahren für die Niederlage im WM-Finale 1950 revanchiert.

Die letztmals bei einer WM von Pele angeführten Brasilianer fegtendie vom Marathon gegen Deutschland ausgelaugten und zu übergroßerHärte neigenden Italiener mit 4:1 vom Platz. In den Straßen vonMexiko-Stadt wurde bis zum Morgen Samba getanzt. Mario Jorge LoboZagallo errang als Erster als Spieler (1958, 1962) und als Trainerdie WM-Krone. Ein Kunststück, das ihm bis heute nur Franz Beckenbauer(1974, 1990) nachgemacht hat.