Turnen Turnen: Ziesmers Horror-Unfall überschattet Vorbereitungen
Kienbaum/dpa. - Die Trainer werden noch immer von Alpträumen geplagt, die Athleten haben den Schock nur zum Teil verkraftet: Auch drei Wochen nach dem schlimmsten Unfall der deutschen Turn-Geschichte überschattet das Schicksal von Ronny Ziesmer die Olympia-Vorbereitung der deutschen Turn-Riege.
Der 25-jährige Cottbuser wird nach seinem schweren Sturz im Training voraussichtlich sein Leben lang querschnittsgelähmt bleiben. «Gerade die beiden Jüngeren, Fabian Hambüchen und Mathias Fahrig, haben die Situation am besten verkraftet, sie sind jetzt zu Stützen des Teams geworden», meint Cheftrainer Andreas Hirsch, dem die Qualen der zurückliegenden Wochen noch immer ins Gesicht geschrieben sind.
«Alles ist aus den Bahnen geraten, das ganze System abgestürzt. Oft habe ich mir nach dem Sturz die Frage gestellt, was machst Du eigentlich? Macht Deine Arbeit noch Sinn? Ich denke, nach so einem Vorfall ist das legitim», sagt der Berliner, der den am 12. Juli bei einem Tsukahara-Doppelsalto beim Sprung verunglückten Ziesmer schon mehrfach im Krankenhaus besucht hat.
Der Chefcoach musste sich in den zurückliegenden Tagen mehr als Psychologe denn als sportlicher Leiter engagieren. «Die leisen Töne standen im Vordergrund. Es galt, mehr zu hinterfragen als anzusagen», so Hirsch. Der 46-Jährige vermied daher auch administrative Anweisungen und versuchte, seinen Jungs Mut zu machen, ihren Glauben an das eigene Können zu stärken. «Ohne Frage, wir gehen auch sportlich mit einem klaren Verlust aus Ronnys Schicksal hervor. Aber das Ziel bleibt der achte Platz, auch wenn vielleicht unter einem anderen Stern», erklärt Hirsch.
Mit Platz acht unter zwölf Nationen würde sich für die Turner ein sportlicher Traum erfüllen. «Plötzlich hätten wir sechs Aktive in der A-Kader-Förderung. Darauf ließe sich aufbauen», hofft Hirsch in Athen auf das Ende des sportlichen Tiefs. Der Länderkampf gegen Rumänien und Italien mit 223 Punkten (bei der WM 2003 erkämpften die Deutschen mit 219 Zählern Platz 12) nur fünf Tage nach dem Horror-Sturz habe das Team zusammengeschweißt. «Da haben wir gezeigt, dass wir noch handlungsfähig sind. Mit einer solchen Leistung können wir in Athen unsere Ziele schaffen», sagt Hirsch.
Der Coach weiß aber auch: «Nach dem Wettkampf habe ich einige abkippen sehen. Erst spät ist allen die Tragweite der Situation klar geworden». Vor allem Ziesmers Trainingsgefährten Thomas Andergassen (Stuttgart) und Robert Juckel (Cottbus) haben bis heute den Vorfall nicht komplett verdaut. So wird der deutsche Mehrkampf-Meister Andergassen in Athen nicht am Sprung starten und kann somit den Sechskampf nicht durchturnen, Juckel äußerte schon Gedanken über ein Karriereende.
Erstaunlich gut hat hingegen Deutschland größtes Turntalent Fabian Hambüchen die Situation gemeistert. Der mit 16 Jahren jüngste deutsche Turner der Olympia-Geschichte wird in Athen nun sogar alle sechs Geräte in Angriff nehmen. «Es wäre aber nicht korrekt, wenn ich sage: Es geht ein Jetzt-erst-recht-Effekt durch die Truppe. Dafür sind die Reaktionen viel zu differenziert», konstatiert Hirsch. Dennoch erwartet er eine gute Vorstellung seines Teams: «Alle wissen, Olympia ist etwas besonderes. Deshalb werden sie für das Ziel kämpfen. Das ist auch in Ronnys Sinne».