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Süddeutschland Süddeutschland: Alles schön rund hier

Von MARGIT BOECKH 09.10.2008, 15:38

Halle/MZ. - Weil das nach anno dunnemals klingt, passt es sogar. Denn der Mann hat einen im modernen Medienzeitalter sensationell anachronistischen Beruf: Er ist Türmer. Und als solcher hat er allabendlich einen Wächterruf abzulassen über die Bewohner von Nördlingen.

Das Städtchen fügt sich auf etwa halber Strecke zwischen Würzburg und Füssen in die touristische Sehnsuchts-Route "Romantische Straße" ein. Und der zwischen 22 Uhr und Mitternacht alle halbe Stunde erklingende Ruf mit der seit Jahrhunderten gebräuchlichen Wortfolge "So G'sell so" ist sozusagen das akustische I-Tüpfelchen zum allenthalben sorgsam gepflegten Mittelalter-Image. Auch wenn die nächtliche Ruferei - siehe oben - dem einen oder anderen Bürger schon mal auf die Nerven geht.

Doch ungerührt dessen versieht Werner Güthner, angetan mit blauem Leinenkittel und schwarzem Samtkäppi ("Quaste rechts heißt verheiratet, Quaste links noch zu haben", stellt er nebenbei klar), seinen in ganz Deutschland einzigartigen Job. Im Wechsel mit zwei weiteren fest angestellten Kollegen wacht er auf dem Turm von St. Georg. Diesem Prachtstück spätgotischer Kirchenbaukunst ist der 90 Meter hohe Lulatsch von Turm beigeordnet, der hier allgemein nur salopp "der Daniel" genannt wird. Im Kontext zu jenem Bibelvers, in dem es heißt: "Und der König erhöhte Daniel ... und machte ihn zum Fürsten über die ganze Landschaft." Was wiederum prima passt. Denn wer die 90 Meter über 350 Stufen erstiegen hat, "dem liegt tatsächlich ganz Nördlingen zu Füßen", wie Türmer Güthner den Besuchern unverzüglich zeigt.

Eine buchstäblich runde Sache. In einem fast vollkommenen Kreis nämlich ordnet sich die Stadt um ihr Zentrum, das der "Daniel" so souverän beherrscht. Von fünf Stadttoren laufen die Straßen radial auf das weithin sichtbare Wahrzeichen zu, umkreisen den Turm konzentrisch, so dass es von hier oben scheint, als ruhe er wie die Spinne im Netz. Dabei vermittelt der Panoramablick über das rot leuchtende Dächermeer ein Gefühl von Bilderbuch-Deutschland, Abteilung Mittelalter. Alles vorhanden: in bodenständigem Fachwerk, wohlhabender Renaissance, prächtigem Barock strahlen die Gebäude, lückenlos eingefasst in eine komplett erhaltene Stadtmauer, die wiederum als einzige in Deutschland vollständig begehbar ist. Kein Betonklotz, nirgends. Dass die einst so reiche wie reichsfreie Stadt im bayerischen Regierungsbezirk Nordschwaben auch heute wieder ein bedeutender Industriestandort ist, kann man nachlesen. Zu sehen ist es nicht.

"Von hier oben kann man 99 Kirchtürme rings im Land sehen", verrät uns Türmer Güthner augenzwinkernd. Wahr oder gut erfunden? Wir lassen es drauf ankommen und fangen gar nicht erst an zu zählen. Faszinierend genug ist der Blick übers Land. Denn dabei ist eine weitere Einmaligkeit gut zu erkennen: das Ries. So nennt sich die Gegend ringsum, die ebenfalls einen leicht zur Nördlinger Mitte hin abfallenden Kreis bildet. Die Hinterlassenschaft von Europas größter Naturkatastrophe - vor 15 Millionen Jahren!

Ein gigantischer Meteorit schlug damals hier ein und bildete einen Krater von 25 Kilometer Durchmesser. Mit der Energie von 250 000 Hiroshima-Bomben erschmolz er zugleich eine weitere Einmaligkeit: ein Gestein, das Suevit (Schwabenstein) genannt wurde. Die praktischen Nördlinger haben daraus unter anderem ihr Rathaus und die gewaltige St. Georgs-Kirche samt "Daniel" gebaut. Und mit ihrem Superkrater die große weite Welt ins Städtchen gelockt. Weil der nämlich so besonders ist, hat die US-Weltraumbehörde NASA die Apollo-Besatzungen vor ihrer Mondreise zum Feldtraining ins Ries geschickt.

So kommt es, dass im Türmerstübchen auch ein Foto der Astronauten-Crew hängt. Von denen erzählt Güthner seinen Besuchern genauso begeistert wie vom einheimischen Promi Gerd Müller, lange vor Ballack-Zeiten der "Bomber der Nation". Vergisst auch nicht, auf die vielen Sehenswürdigkeiten hinzuweisen, die man eigentlich alle noch besuchen muss: das Rieskrater-Museum, in dem man der Meteoritenkatastrophe auf den Grund gehen kann; das Eisenbahnmuseum mit der größten privaten Fahrzeugsammlung Bayerns, das Stadtmauermuseum . . .

Nix wie runter vom Turm. Schließlich laden auch noch viele kleine Läden zum Bummel ein. Die Stadtmauer will auch noch umrundet werden. Und wenn man dann abends nach einem leckeren schwäbisch-bayerischen Essen in einer der gemütlichen Wirtschaften zur passenden Stunde aufbricht ins Hotel, dann hört man ihn rufen, den Türmer: "So G'sell so". Halt's Maul? Von wegen!