SMS-Portal SMS-Portal: Twitter wurde zum Anlaufpunkt für Medien
HALLE/MZ. - In Deutschland heißt Janis Krums "Tontaube" und ihre Geschichte ist die Geschichte eines medialen Märchens. Schon um 10.30 Uhr, nur eine Stunde nach dem Überfall des 17-jährigen Tim K. auf seine ehemalige Schule, bekommt die Verlagsangestellte von einer Kollegin den Hinweis, dass ein Amokläufer in der Stadt unterwegs sei. "Achtung: In der Realschule Winnenden gab es heute einen Amoklauf - besser nicht in die Stadt kommen!!!!", schreibt Tontaube auf ihre Twitterseite. Sie sitzt anderthalb Kilometer vom Tatort entfernt, sie kann nichts sehen und sie hört nichts außer den Nachrichten aus dem Fernsehen.
Und wird in den folgenden Stunden doch zur Kronzeugin der Ereignisse. Eine Stunde nach der Warnung ist "Tontaube" der Stadtbilderklärer der Tragödie. Journalisten aus aller Welt wollen Interviews, Nachrichtenmagazine und Fernsehsender melden sich nun schnell auf Twitter an, um selbst zu twittern. Der "Focus" wählt im ersten Anlauf den Namen "Amoklauf", ändert ihn aber später, als die Twittergemeinde lautstark protestiert. Die ist in Deutschland ungleich überschaubarer, als das mediale Donnerwetter am Tag nach der Tragödie vermuten lässt. Nur rund 40 000 Deutsche sind bei Twitter, zu deutsch so viel wie "Zwitschern", angemeldet. Wie viele von ihnen wirklich regelmäßig twittern oder mitlesen, ist unbekannt.
Bekannt hingegen ist die mediale Wirkung der Twitterer. Die von ihnen eingestellten Meldungen aus Winnenden werden über seriöse Medien weitertransportiert, ohne dass irgendjemand ihren Wahrheitsgehalt hätte überprüfen können. Dabei kommt es zu einer Art Rückkopplung: Twitterer schreiben, was sie im Radio gehört haben. Worauf Fernsehsender brühwarm melden, was die Twitterer zwitschern. Dabei geht es um Geschwindigkeit, um News und Quote, nicht um verletzte Gefühle.
Die seriöse "Zeit" schaltet bei Google Anzeigen mit der Zeile "Amoklauf Winnenden - Aktuelle Infos Zeit Online!" Unbekannte sichern sich anonym die Domains mit dem Namen des Attentäters. Zu diesem Zeitpunkt hatte das soziale Netzwerk SchuelerVZ die Seite des 17-Jährigen bereits gelöscht und das Portal StudiVZ sperrt eine ganze Gruppe, in der Schüler des Albertville-Realschule diskutieren. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier eröffnete am Nachmittag die nächste Runde der Debatte.
"Ich finde es falsch, angesichts des Unglücks so vieler Menschen über die eigene Anreise zu schreiben", kritisiert Niggemeier die twitternden Reporter. Draußen sei jetzt wieder alles ruhig, berichtet "Tontaube". Aber ihre Gedanken wanderten, "in welchem grotesken Gegensatz die Normalität zu sowas steht". Es ist der Abend eines langen Tages auf Twitter. "Tontaube" tippt: "Mal schauen, wie interessiert die Medien sind, wenn ich ab morgen wieder über Pfannkuchen twittere."