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MZ-Interview MZ-Interview: Philipp Lahm über Rausch, Macht und Ohnmacht auf dem Platz

15.01.2012, 18:35
Philipp Lahm.
Philipp Lahm. Archiv Lizenz

Halle (Saale)/MZ. - Lahm ist seit Sommer 2010 Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, er hat sich mit seiner lustigen Krächzstimme Gehör verschafft.

Nicht immer auf die ganz feine Art. Um den seit anderthalb Jahren verheirateten 28-Jährigen buhlten einst der FC Barcelona und Manchester United, ehe der Verteidiger, der vom ehemaligen Mitarbeiter der Bayern-Pressestelle, Roman Grill, beraten wird, einen mit geschätzten acht Millionen Euro Grundgehalt pro Jahr dotierten Kontrakt bei Bayern München unterschrieb.

Mit der Vorveröffentlichung der prägnantesten Inhalte seines Buches "Der feine Unterschied - wie man heute Spitzenfußballer wird" in der Bild-Zeitung hat sich Lahm allerdings keine neuen Freunde gemacht. Selbst Bundestrainer Joachim Löw war "not amused". Martin Scholz und Jan Christian Müller sprachen mit Philipp Lahm über Rausch, Macht und Ohnmacht auf dem Platz, und warum er keinem schwulen Profi-Fußballer raten würde, sich zu outen.

Herr Lahm, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass bei Ihnen zu Hause immer die Hölle los war, wenn Sie beim "Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen" am Rand einer Niederlage standen. Wie dürfen wir uns das vorstellen?

Lahm: Dann konnte es passieren, dass die Kante des Spielfelds unauffällig immer mehr zu mir herüber rutschte, bis ich drunter hauen konnte und alle Spielfiguren in die Luft flogen.

Sind Sie ein Spielverderber?

Lahm: Ich kann einfach nicht verlieren. Ich muss erst mal die Niederlage verkraften, da kann ich es nicht ertragen, wenn derjenige, der sie mir zugefügt hat, unmittelbar danach einfach so neben mir sitzt, als wäre nichts passiert. Aber so schlimm ist es nun auch wieder nicht: Ich gehe nach Niederlagen nie auf jemanden los.

Kann man es lernen, mit dem Verlieren klar zu kommen?

Lahm: Ja, aber das fällt mir ungeheuer schwer. Wenn es leicht für mich wäre, wäre ich nie Spitzensportler geworden. Jeder Spitzensportler hat das in sich - diesen Drang, Gewinnen zu wollen. Sonst kommt man nicht soweit. In meiner ersten Fußballmannschaft, beim FT Gern, habe ich am Anfang nur verloren. Sogar oft sehr hoch. Bei den Bayern haben wir dann die meisten Spiele in der Jugend schon gewonnen. 8:0, 10:0, 9:1. Also: Das Verlieren habe ich bei Gern gelernt, nicht bei den Bayern.

Sie schreiben von dem Glücksgefühl, wenn Sie auf dem Platz stehen und "die Stammhirnrinde Endorphine ausschüttet. Sind Sie ein Fußball-Junkie?

Lahm: Auf jeden Fall. Vor allem bei Champions-League-Spielen werde ich zum Junkie. Du sitzt im Bus, es ist schon dunkel draußen. Man sieht das Stadion, es kommt einem vor, als ob es brennen würde. Dann gehst du hinein und es kribbelt am ganzen Körper. Wenn Du das einmal erleben durftest, dann willst Du es wieder.

Sie galten lange Zeit als Liebling aller Schwiegermütter, nach der Veröffentlichung Ihres Buches waren Sie der Egoist. Welche dieser Wahrnehmungen ärgert Sie mehr - die des Softies oder die des Nachtreters?

Lahm: Wer mein Buch gelesen hat, wird schnell merken, dass es ein sauber geschriebenes Buch ist. Mir ging es darum, zu zeigen, was den modernen Fußball ausmacht, was da alles so passiert mit einem. Deswegen war ich schon überrascht über die anfangs sehr heftigen Reaktionen. Ich habe keine Interna ausgeplaudert und ich wollte niemanden persönlich attackieren.

Rudi Völler kommt nicht so gut weg, Sie attestieren ihm schlichte Trainingsmethoden und Taktikbesprechungen habe es so gut wie gar nicht gegeben. Haben Sie sich inzwischen mit ihm ausgesprochen?

Lahm: Wir werden uns schon noch über den Weg laufen und dann auch drüber reden. Mir hat die verkürzte Darstellung der Person Rudi Völler in der ersten Berichterstattung nicht gefallen.

Er hat Ihnen immerhin zum Debüt in der Nationalmannschaft verholfen.

Lahm: Im Buch steht ja mehrfach: "Danke, Trainer". Ich habe eine Zeit beschrieben, in der er Nationaltrainer war. So war es damals, da gab es keine Videoanalysen.

Die Kollegen der Bild-Zeitung, wo der Vorabdruck Ihres Buches erschien, waren "not amused", dass Sie Ihnen erst die Vorveröffentlichung gaben, und dann behaupteten, die Darstellung habe Ihnen nicht gefallen.

Lahm: Ich habe mit der Bild-Zeitung kein Problem, und sie mit mir, glaube ich, auch nicht. Das Problem war doch eher so, dass Rudi Völler bereits am Tag der Vorveröffentlichung mit ein paar Zeilen konfrontiert wurde. Die Bild-Zeitung hat den Artikel erst einen Tag später rausgebracht.

Sie haben unter Louis van Gaal ein Interview gegeben, in dem Sie den Trainer verteidigen und den FC Bayern kritisieren. Sie mussten 50 000 Euro Strafe zahlen. In Ihrem Buch schreiben Sie nun, die Investition habe sich gelohnt. Ist das Koketterie?

Lahm: Die 50 000 Euro habe ich nicht gern gezahlt. Aber ich glaube, dass sich dadurch auch etwas entwickelt hat im Verein.

Was genau?

Lahm: Es werden inzwischen gezielt Spieler für bestimmte Positionen geholt, wir haben ein Spielsystem; wir benötigen dazu diese oder jene Spieltypen, und danach wird eingekauft.

Können Sie sich vorstellen, so etwas noch mal zu machen?

Lahm: Weiß ich nicht. Auf den ganzen Ärger, der danach kam, kann ich gerne verzichten.

Sie geben in Ihrem Buch zu, dass Sie öfter mal geweint haben - beispielsweise als Sie beim EM-Finale 2008 wegen einer Verletzung in der Kabine bleiben mussten. Das hört man aus Ihrer Zunft eher selten.

Lahm: Also ich finde das nicht dramatisch. Weinen ist kein Zeichen von Schwäche. Ich habe mich damals eben so gefühlt. Vor allem die Situation vor der Heim-WM war schwer, es waren ja nur zwei, drei Wochen bis zum Spiel gegen Costa Rica. Da wacht man aus der Narkose auf, der Arm tut weh, und man ist einfach fertig.

In Ihrem Buch schreiben Sie auch, Sie würden keinem Profi-Fußballer raten, sich als Homosexueller zu outen, weil der dann im gegnerischen Stadion von den Zuschauern niedergeschrien würde. So deutlich wie Sie hat das bisher noch niemand gesagt.

Lahm: Aber so ist es nun mal: Im Stadion geht es selten politisch korrekt zu. Fußball ist wie früher Gladiatorenkampf. Sicher, Politiker können sich heute als Homosexuelle outen, aber die müssen auch nicht Woche für Woche vor 60 000 Zuschauern spielen. Es ist schade, dass es so ist. Aber so schätze ich das ein: Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft schon so weit ist, schwule Profi-Fußballer als etwas Selbstverständliches zu akzeptieren.

Wie ist es auf dem Platz - wird da der Gegner immer noch als "Tunte" beschimpft?

Lahm: Nein, das ist harmlos geworden.

Sie waren 2007 auf dem Cover der Schwulenzeitschrift "Front" zu sehen, der Sie ein Interview gegeben haben. Man hatte danach allerdings nicht den Eindruck, als hätte das eine Diskussion über Homosexualität im Spitzensport eingeleitet. Im Prinzip ging es danach nur um die Frage: Ist der Lahm womöglich schwul? Wie gehen Sie damit um?

Lahm: Ich nehme das genau so wahr wie Sie. Was soll man da machen? Wenn man meinen Namen bei Google eingibt, wird gleich das Begriffspaar "Philipp Lahm schwul" angegeben. Als das Magazin damals anfragte, habe ich dennoch gleich gesagt: "Warum nicht?" In dem Interview ging es dann zum Großteil um Fußball.

Wann immer in den vergangenen zwei Jahren aus ihrem Berufsfeld Burn-Out-Fälle oder Depressionen bekannt wurden, scannten die Medien andere Lebensbereiche zu diesem Thema. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass Menschen im Alltag inzwischen dem gleichen Druck ausgesetzt sind wie Hochleistungssportler. Was schon eine beängstigende These wäre, oder?

Lahm: Ich weiß nicht, ob ich es so zuspitzen würde. Wenn wir uns die Fakten anschauen, sind Burn-out oder Depressionen die neuen Volkskrankheiten. Leider werden sie noch zu oft als Schwäche ausgelegt, auch wenn sich das zuletzt vielleicht geändert hat. Ich finde es wichtig, immer wieder zu sagen: Depressionen sind keine Schwäche, sie sind eine Krankheit.

Aber im Grunde lässt sich doch am System des Profifußballs, an dem wachsenden Leistungsdruck, nichts ändern.

Lahm: Noch mal: Ich sehe eine Depression als eine Krankheit an, aber nicht im Umkehrschluss grundsätzlich den Konkurrenzkampf als eine Krankheit des Leistungssports.

Aber Leistungssport ist zum Teil gnadenlos. Nehmen wir Michael Ballack, der vor der WM 2010 vom scheinbar unersetzlichen Anführer zur Randperson und tragischen Figur geworden ist. Wie hält man sowas aus?

Lahm: Das stimmt schon. Was Sie nicht ansprechen ist, dass es genauso schnell auch wieder nach oben gehen kann. Ich selbst bin binnen sechs Monaten vom Regionalliga- zum Nationalspieler aufgestiegen. Aber es stimmt, es ist kein leichtes Geschäft. Mir hilft dabei mein Umfeld, meine Frau, unsere Familien unsere Freunde, bei ihnen kann ich mir Ruhe und Kraft holen.

Dieses Umfeld hat Ihrem Bayern-Mitspieler Breno offenbar gefehlt. Auch bei dem Brasilianer besteht der Verdacht auf eine Depression. Wie sind Sie mit ihm umgegangen?

Lahm: Zunächst einmal habe ich versucht, ihm vor allem das Gefühl zu geben, dass er immer noch zur Mannschaft gehört.

Das läuft also geräusch- und sprachlos ab?

Lahm: Gesprochen haben wir schon. Er weiß: Wir stehen als Mannschaft zu ihm. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass er wieder voll integriert ist im Team.

Sie haben mal gesagt, die Fußball-Vision "Elf Freunde sollt Ihr sein" sei schon lange nur noch Klischee. Was hält eine Mannschaft denn heute zusammen?

Lahm: Es ist auf alle Fälle wichtig, dass es zwischenmenschlich stimmt. Aber Freunde? Andreas Ottl ist mein Freund. Aber er spielt jetzt ja nicht mehr bei den Bayern. So gesehen habe ich heute keinen wirklich engen Freund mehr bei den Bayern. Aber ich verstehe mich mit vielen gut und unternehme auch privat mal was mit ihnen.

Reden wir über Macht und Verantwortung. Sie sind der mächtigste Fußballspieler Deutschlands, Sie führen die Nationalmannschaft und das wichtigste Klubteam. Führen Sie in beiden Team auf dieselbe Weise?

Lahm: Im Grunde ja, wobei man sagen muss: Wir führen gemeinsam.

Sie und Bastian Schweinsteiger?

Lahm: Ja. Wir machen das zusammen. Ich sage beispielsweise gerne meine Meinung. Ich will, dass meine Meinung Gewicht hat. Es macht mir Spaß, mit zu entscheiden, und der Spaß ist ohnehin die Grundvoraussetzung im Fußball. Wenn der nicht mehr da wäre, müsste ich die Ämter sofort abgeben. Interessant ist, dass Bastian Schweinstiger und ich neulich im Spiel gegen die Niederlande beide gefehlt haben.

Deutschland gewann 3:0.

Lahm: Ja. Ich habe zu Hause auf der Couch gesessen und mich riesig gefreut.

Sie konnten sich aber auch deshalb freuen, weil Ihr Stammplatzes sicher ist.

Lahm: Das stimmt, man will dabei sein. Aber ich weiß auch: Ich bin 28 und die nächste Generation ist schon da: Kroos, Götze, Müller, Schürrle. Ich war jetzt schon in drei Länderspielen der älteste Spieler auf dem Platz. Da schaut man sich dann schon mal um und denkt: Das ist komisch, wie schnell ging denn das?

Was ist anders an der neuen Generation?

Lahm. Das sind andere Spielertypen. Sie sind technisch sehr, sehr stark. Und sie sind kreativ.

Sie stehen als Kapitän für einen Paradigmenwechsel. Vorher gab es die Platzhirsche und Rumbrüller und Wegbeißer wie Kahn.

Lahm: Ich habe auch von Oliver Kahn viel gelernt. Davon mal abgesehen bedeutet flache Hierarchie ja immer auch, dass es noch Hierarchie gibt. Wenn keine Hierarchie herrscht, hat man verloren. Aber ich kann doch einen jungen Spieler heute nicht mehr anschreien, wenn ich finde, dass er einen Fehler begangen hat. Dann denkt er: Was will der Alte von mir? Ich führe das Amt so aus, wie ich selbst bin. So ziehe ich das mit Bastian gemeinsam auf. Und wir sind in der Hierarchie jetzt oben.

Werden Sie sich mit Michael Ballack eigentlich noch mal aussprechen?

Lahm: Warum sollten wir das tun?

Die Art und Weise, wie Sie ihn als Kapitän in der Nationalelf abgelöst haben, hat monatelang Schlagzeilen produziert.

Lahm: Ich glaube, dass unser Verhältnis in der Öffentlichkeit schlechter gemacht wird, als es tatsächlich ist.

Dann wäre es ja einfach, sich mal zu treffen.

Lahm: Dafür gibt es keinen Grund. Wir haben uns auf dem Platz schon ganz normal begrüßt. Es ist ein normales Verhältnis unter Kollegen.