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Jungen und Mädchen lernen gemeinsam doch besser

Von Mona Hope 21.07.2008, 07:33

Potsdam/dpa. - Sie werden später eingeschult, sie bleiben öfter sitzen und sie haben die höhere Schulabbrecherquote: Jungen sind das neue Sorgenkind des Bildungssystems.

Die Reaktion darauf folgt prompt: Stimmen werden laut, die infrage stellen, was sich erst vor etwa 40 Jahren bundesweit durchgesetzt hat - die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen, in Fachkreisen Koedukation genannt. Experten sehen reine Jungen- und Mädchenschulen jedoch kritisch.

Getrennte Schulen für Mädchen und Jungen gibt es traditionell vor allem in katholischer Trägerschaft. Nach einer Umfrage aus den Jahren 2002/03 waren von den damals 873 katholischen Schulen in Freier Trägerschaft 27 Prozent reine Mädchen- und 4 Prozent reine Jungenschulen, teilt der Arbeitskreis Katholischer Schulen in Freier Trägerschaft in der Bundesrepublik Deutschland (AKS) in Bonn mit.

Prof. Marianne Horstkemper von der Universität Potsdam ist überzeugt, dass Mädchen- und Jungenschulen «eine aussterbende Spezies» sind. Sie sehe «keine überzeugenden Argumente» für eine getrennte Schule. Unterschiedlichkeit werde in Deutschland oft als Belastung empfunden, statt die Chancen zu erkennen. «Man denkt, je ähnlicher sich Lernende sind, desto besser kann man sie belehren.»

Lernen untereinander in unterschiedlich leistungsstarken Gruppen sei aber ebenso wichtig und komme gerade den schwachen Schülern zugute. «Das haben schon Reformpädagogen Anfang des 20. Jahrhunderts erkannt», sagt Horstkemper. Nicht ohne Grund werde altersübergreifender Unterricht erfolgreich praktiziert. Eine Trennung der Geschlechter empfiehlt die Professorin deshalb allenfalls «in homöopathischen Dosen».

Von homöopathischen Dosen kann am Collegium Josephinum Bonn nicht die Rede sein. Hier werden nur Jungen unterrichtet. Das habe weniger ideologische als historische Gründe - sagt Oberstudiendirektor Peter Billig: Früher kümmerte sich das Collegium um den Ordensnachwuchs der katholischen Kirche. Vorteile sieht Billig für seine Schüler in der Pubertät. Der gemeinsame Unterricht in dieser Zeit sei oft schwierig. «Das ganze vom Unterricht ablenkende Imponiergehabe findet an einer reinen Jungenschule nicht in dem Ausmaß statt.»

«Die Kategorie Geschlecht wird ein wenig dramatisiert», findet dagegen der Bielefelder Soziologe Miguel Diaz. Mädchen lösten das Gehabe vielleicht aus, «die Ursachen liegen jedoch in unserer Gesellschaft und ihrer Vorstellung von Männlichkeit». Männern sei die Rolle der Helden auf den Leib geschrieben - oder die des Versagers.

Tatsächlich bleiben Jungen in der Schule eher sitzen, doch auch bei den leistungsstarken Schülern haben die Jungen laut Diaz die Nase vorn. «Die Gruppe der Jungen ist eben in sich schon heterogen», sagt Horstkemper. Eine Trennung von den Mädchen ergebe deshalb nicht automatisch eine «Gruppe von Ähnlichen». Aufgabe der Schule sei es, die vielen Unterschiede der Schüler - vom Geschlecht bis zum sozialen Hintergrund - wahrzunehmen, die unterschiedlichen Leistungen zu berücksichtigen und die Schüler individuell zu fördern.

Im Fachjargon heißt dieser Ansatz «reflexive Koedukation». Um den unterschiedlichen Bedürfnissen von Jungen und Mädchen gerecht zu werden, sollten etwa Technikthemen wie der Flugzeugbau ins Lesebuch aufgenommen und die Funktion der Hydraulik am Herzen statt an der Hebebühne erklärt werden, sagt Horstkemper. «Das kommt dann beiden Geschlechtern zugute.»

Das gesellschaftlich festgelegte Bild vom «echten» Mann kann die Schule allein jedoch nicht ändern. «Auch die Familie, Kitas und Jugendeinrichtungen sind in der Pflicht», sagt Diaz. «Da vielen Jungen keine realen Männer mit Stärken und Schwächen als Vorbild zur Verfügung stehen, beziehen sie ihre Männerbilder aus Musikclips und Filmen.» Dort werde mit aufgemotzten Autos und Gewalt eine Welt fernab der Jungenrealität gezeigt. Aber genau diese Realität bräuchten die Jungen.

Reflexive Koedukation meint den bewussten Umgang mit Unterschiedlichkeiten beim Unterrichten. Kleine Klassen mit möglichst zwei Lehrern sind dabei elementar. Dazu gehören auch entsprechende Lernmaterialien und die Ausgestaltung der Unterrichtsräume mit zum Beispiel einer Lese- und Bastelecke. Weitere Indikatoren sind etwa das Arbeiten mit individuell zusammengestellten Wochenarbeitsplänen für Schüler oder geschlechtsgetrennte Lern- und Erfahrungsangebote.