Joachim Kaisers Kanon Joachim Kaisers Kanon: Wo die Bibel und «Das Kapital» vereint sind
Hamburg/dpa. - Die Diskussion um Sinn oder Unsinn einesliterarischen Kanons spaltet die Feuilletonisten. Die einen - derbürgerlichen Bildungstradition verpflichtet - befürworten einensolchen Katalog epochaler Werke als Orientierungshilfe im Zeitalterpostmoderner Beliebigkeit. Die anderen verteufeln die Kanononisierungals engstirnige Vorgabe konservativer Kultureliten. Der Literatur-und Musikkritiker Joachim Kaiser («Süddeutsche Zeitung») hat nun alsHerausgeber mit dem «Buch der 1000 Bücher» ein Plädoyer für den Kanonabgegeben - einen «Wegweiser für Leser», wie es in seinem Vorwortheißt.
Das im Harenberg Verlag erschienene Nachschlagewerk gibt einenÜberblick über bedeutende Romane, Lyrikbände, Dokumentationen undphilosophisch Wegweisendes von Platon bis Foucault. Homer trennen nurwenige Seiten vom französischen Skandal-Autor Houellebecq. LehrreicheBeiträge finden sich ebenso zur Bibel wie zum Kapital von Karl Marx.Obwohl die Enzyklopädie, die von mehr als 140 Wissenschaftlern undPublizisten verfasst worden ist, ihren Schwerpunkt auf die Literatureuropäisch-abendländischer Tradition legt, finden auch afrikanischeund asiatische Autoren Erwähnung.
Die Beiträge beginnen mit einem knappen Abschnitt zum Leben undzur Bedeutung des Verfassers. Anschließend werden dessen wichtigstenWerke kurz besprochen - gegliedert in die Stichpunkte Entstehung,Inhalt, Aufbau und Wirkung. In der Regel bieten die Artikel einen gutverständliche Zusammenfassung und ordnen die Bücher in denkulturhistorischen Kontext ein. Damit erleichtert KaisersNachschlagewerk dem Literatur-Interessierten beispielsweise denZugang zu Romanen.
Die wichtige Rubrik «Wirkung» hebt unter anderem den Einflusseines Buches auf spätere Schriftsteller hervor und betont damitdessen literaturhistorische Relevanz. Ebendiese - freilich nur schwerbestimmbare - Relevanz ist es, die Kaiser in seinem einführendenEssay als einen der wichtigsten Auswahl-Kriterien für dieZusammenstellung eines Kanons nennt.
Allerdings verzichtet das «Buch der 1000 Bücher» vollständig aufdie Besprechung von Dramen. Damit bleiben epochale literarische Werkeunerwähnt, deren Bedeutung Kaiser selbst in seinem Vorwort hervorhebt- etwa alle Shakespeare-Stücke oder Goethes «Faust».
Im «Buch der 1000 Bücher» ergänzen an den Seitenrändern prägnanteZitate die Artikel. Tabellen wie «Die beliebtesten deutschenVolksbücher» oder «Hauptpersonen in Christiane F. - Wir Kinder vonBahnhof Zoo» erleichtern eine raschen Überblick. Der verknappendenDarstellungsform einer Tabelle kann aber gelegentlich die inhaltlicheSorgfalt zum Opfer fallen. So heißt es über Nicolai Gogols Roman-Fragment «Die toten Seelen», Protagonist Tschitschikow kaufe «inbetrügerischer Absicht die Leichen verstorbener Leibeigener auf».Tatsächlich kauft er die Toten nur auf dem Papier, um sieanschließend Gewinn bringend zu verpfänden.
Diskussionsstoff liefert - wie bei jedem Kanon - die getroffeneAuswahl der Bücher. Ist es beispielsweise gerechtfertigt, die unterAntisemitismus-Verdacht stehende Kaufmanns-Saga «Soll und Haben» desRealisten Gustav Freytag zu erwähnen? Im «Buch der 1000 Bücher» wirdder in Vergessenheit geratene Freytag - ein Hardliner, der dieLiteratur vor allem als Vehikel zur Propagierung bürgerlicherTugenden verstand - «neben Theodor Fontane und Theodor Storm alsbedeutendster Vertreter der deutschsprachigen Erzählliteratur desbürgerlichen Realismus» bezeichnet. Andere Literatur-Experten haltendie Zeitgenossen Gottfried Keller oder Adalbert Stifter für weitausbedeutender als Freytag.
Das Projekt Kaisers reizt also zwangsläufig zum Widerspruch. Eswirft vor allem die Frage auf, warum ein Leser nicht gleich zu einemgewöhnlichen Literatur-Lexikon greifen soll.
Joachim Kaiser (Hrsg): Harenberg Das Buch der 1000 Bücher. Autoren, Geschichte, Inhalt und Wirkung. Harenberg Verlag, Dortmund; 1247 S., Euro 50,00 (ISBN 3-611-01059-6)