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Doping Doping: Spätfolgen bei Kindern von DDR-Sportlern

Von Ulrike von Leszczynski 22.11.2006, 17:49

Berlin/dpa. - Birgit Boese hat ihr Wissen in neun blauenAktenordnern vor sich aufgebaut. Die ehemalige DDR-Kugelstoßerin istan einer Krücke in die Berliner Humboldt-Universität gehumpelt, undsie weiß sehr genau, worüber sie im Hörsaal spricht: Über Doping inder DDR und über die gesundheitlichen Folgen, mit denen ehemaligeostdeutsche Spitzensportler heute zu kämpfen haben. Aber es geht nichtnur um die Athleten, die in den 50er, 60er und 70er Jahren geborenwurden. Es geht auch um ihre Kinder. Sportwissenschaftler derHumboldt-Universität haben erstmals aufgezeigt, dass es einen engenZusammenhang zwischen dem Doping von Sportlern, Totgeburten,Fehlgeburten und Kinderleiden wie Allergien geben kann.

Für die Studie, die mit 100 000 Euro von der Stiftung zurAufarbeitung der DDR-Diktatur finanziert wurde, hat Birgit Boese zweiJahre lang 52 ehemalige DDR-Sportler interviewt, 24 Frauen und 28Männer. Sie hat ihnen mit den Wissenschaftlern abgestimmte Fragengestellt, und ihnen Anonymität zugesichert. Die einzelnen Gesprächesind auf über 2000 Seiten in den blauen Aktenordnern festgehalten, dieerste Auswertung umfasst mehr als 900 Seiten.

«Es sind erschreckende Daten», sagt der Sportsoziologe GiselherSpitzer. Was die Wissenschaftler in den neuen Gesprächsprotokollen zulesen bekamen, muss sich zu einem perfiden System zusammenreimen. «DieTrainer haben bei Anabolika von Vitaminen oder Mineralstoffengesprochen», berichtet Spitzer. «Die Stoffe wurden in einen Tropfgespritzt oder es gab Pralinen beim Arzt mit deutlich sichtbarenEinstichstellen.» Wer als Sportler - auch im Kindesalter - die«Vitamine» verweigerte, setzte seine Karriere aufs Spiel.

Die Liste der Krankheiten, die in der Studie dokumentiert sind, istlang. 62 Prozent der befragten Athleten haben zum Beispiel psychischeProbleme. Es sind Männer mit Brüsten oder Frauen, die aussehen wieMänner. Ein Viertel der Befragten hat darüber hinaus beispielsweiseKrebs, ein weiteres Viertel Essstörungen bis hin zur Magersucht.

Besonders getroffen aber hat es die Athletinnen - und ihre Kinder.Sie erlitten 32 mal so oft eine Fehlgeburt wie Frauen in derNormalbevölkerung Ostdeutschlands, fanden die Forscher heraus. DieQuote der Totgeburten lag 10 mal höher. Einige Sportlerinnen musstenihre Kinderwünsche ganz aufgeben. Jedes vierte lebend geborene Babyder Wettkämpferinnen leidet an Allergien, Haut- oderLungenerkrankungen, heißt es in der Studie.

«Wir sind keine Ärzte», betonen die Berliner Sportwissenschaftler.«Aber wir haben diese Daten mit Geschwistern der Sportler und derenKindern verglichen», sagt Spitzer. «Dort gab es keine ähnliche Häufungsolcher Fälle.» Eine direkte Kausalität zwischen Doping und Folge-Erkrankungen können die Wissenschaftler mit ihrer Studie noch nichtbeweisen. Sie sprechen lieber von «vorsichtigen Hypothesen», die aufeinen Kontext hindeuten.

Birgit Boese berichtet, dass sie unter Herzrhythmus- undStoffwechselschäden sowie Diabetes leide. «Ich habe eine Wirbelsäuleals wäre ich 80, aber ich bin 44», sagt sie. Bei den Interviews mitanderen Doping-Opfern habe sie sich manchmal erschrocken, ergänzt sie.«Es gibt auch Selbstmordgedanken», sagt sie. Die Wissenschaftlerhoffen, dass ihre Studie auch mit Blick auf ein deutsches Anti-Doping-Gesetz gelesen wird. Klagen gegen Trainer, die in den Akten genanntwerden, haben die Forscher nicht erhoben. «Bisher nicht», sagtSpitzer.