Das war der Hammer
HALLE/MZ. - "Lady in Red" dudelte es im Hintergrund aus einem Lautsprecher. Der pure Zufall, dass Betty Heidler gerade in diesem Moment mit dem vier Kilogramm schweren Wurfhammer den Ring betrat. Nichts davon bekam die Athletin mit dem streng nach hinten gebundenen roten Haar mit. Alles blendete sie aus. Auch die Rufe und das Klatschen der Zuschauer direkt am Wurfkäfig der Natur-Leichtathletikanlage in Halles Brandbergen. Dann die Explosion mit vier schnellen Drehungen - und der Hammer wollte danach seine Luftfahrt nicht mehr beenden. Nach 79,42 Metern schlug er erst wieder auf. Weltrekord. Ein seltenes Gefühl für einen deutschen Leichtathleten. Die 27-jährige Betty Heidler war noch nicht einmal fünf Jahre alt, als letztmals eine Welthöchstleistung erzielt worden war. Es war der Speerwurf-Weltrekord von 80,00 Metern durch Petra Felke am 9. September 1988.
Kein Zufall ist es, dass Betty Heidler am Sonnabend diese lange Zeit des Wartens auf eine Spitzenmarke made in Germany beendet hat. Die Weltmeisterin im Hammerwerfen von 2007 in Osaka, WM-Zweite von 2009 in ihrer Heimatstadt Berlin und Europameisterin von 2010 galt als eine Kandidatin für den großen Wurf. Doch als es dann tatsächlich so weit war und sie die bisherige Bestmarke der Polin Anita Wlodarczyk gleich um 1,12 Meter verbesserte, da schnappte sie erst einmal nach Luft. "Ich bin schockiert. Das ist unglaublich", sagte Betty Heidler voller Rührung. Noch mehr gingen die Gefühle bei dem Wettkampfsprecher Andreas Möckel durch. "Da brat mir einer einen Storch", brüllte er in das Mikrofon.
Dann kam die Fassung wieder bei der Berlinerin Betty Heidler, die für die LG Frankfurt (Main) startet. "Dass mir der erste Leichtathletik-Weltrekord für Deutschland nach der Wende gelungen ist, macht mich stolz." Der Ort der Handlung, die 37. Halleschen Erdgas-Werfertage, trug zur Freude bei. "Auf dieser Anlage habe ich als junge Schülerin einen meiner ersten Wettkämpfe überhaupt bestritten. Und es macht mich besonders glücklich, dass meine Eltern den Weltrekord direkt erlebt haben." Sie fiel ihrer Mutter Gudrun und Vater Siegfried Heidler als erstes um den Hals. Die Eltern hatten in der ersten Reihe hinter dem Geländer auf den grasgrünen Stühlen gesessen und beim Wettkampf ihre Aufregung kaum verbergen können.
Die Mutter hatte sämtliche Weiten - auch der Konkurrentinnen ihrer Tochter - auf einem Zettel notiert. "Ich kann mir das vor lauter Aufregung nicht alles merken", sagte sie und faltete das Blatt Papier noch einmal vorsichtig zusammen. "Den Zettel bekommt Betty von mir als Erinnerung geschenkt. Das, was sie hier geschafft hat, war schließlich etwas ganz Besonderes."
Betty Heidler umarmte unterdessen ihren Trainer Michael Deyhle. "Wir haben eine enge Beziehung und viel Vertrauen zueinander. Das ist die Voraussetzung für den Erfolg", ließ der Mann wissen, bei dem die Werferin seit zehn Jahren trainiert. Dann fuhr ihre Hand zum Hals, zu einer silbernen Kette mit einem Kleeblatt als Anhänger - "mein neues Maskottchen. Mir wurde die Kette vor einer Woche geschenkt."
Irgendwann nach den Freudeschreien und den Küsschen hier und da setzten die Gedanken ein, wie das alles geschehen konnte. "Ich bin auf die Biomechanik-Aufzeichnungen gespannt", meinte die Studentin. Veränderungen in der Wurftechnik misst sie einige Bedeutung bei. "Das hat garantiert zum Rekord beigetragen. Zwischen der dritten und vierten Drehung vor dem Abwurf bin ich schneller geworden. Und was noch wichtiger ist: Ich bin beim Werfen in der Schulter entspannter, wodurch der Arm um zwei Zentimeter länger wird." Trainer Michael Deyhle bestätigt: "Durch die neue Wurfhaltung erhöht Betty ihren Radius. Messungen haben ergeben, dass ein Zentimeter mehr Radius eine um 70 Zentimeter größere Weite erbringen kann."
Natürlich durfte eine Frage nicht fehlen. Wann fällt die 80-Meter-Grenze im Hammerwerfen der Frauen? Selbst in der Stunde der Euphorie hätte Betty Heidler am liebsten auf eine Antwort verzichtet. Weil allein der Gedanke an die 80 Meter Druck aufbauen könnte. Eine Situation, mit der Betty Heidler auch unangenehme Erinnerungen verbindet. Mehrfach ist sie an der nervlichen Belastung gescheitert. Wie bei der WM 2005, der EM im Jahr darauf und bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking, wo sie als Mitfavoritin ohne Medaille blieb. "Lasst uns mal weniger über die 80 Meter reden", meint sie. "Es wäre doch schon gut, wenn ich stets in der Lage wäre, über 76 Meter zu werfen." Nur: Nach ihrem Weltrekord in Halle wird ihr das keiner mehr so ohne weiteres abnehmen. Kommentar Seite 4