Dai Sijie Dai Sijie: «Balzac und die kleine chinesische Schneiderin»
München/dpa. - Totalitäre Staaten wollen ihre Untertanen in derRegel zu braven Befehlsempfängern erziehen. Wie man sich dem nichtnur widersetzen, sondern sogar den Spieß umdrehen kann, das hat mitviel Witz der in Paris lebende chinesische Emigrant Dai Sijie inseinem ersten Roman «Balzac und die kleine chinesische Schneiderin»demonstriert. Der Autor selbst war Opfer der Ende 1967 beginnendenKulturrevolution in China, bei der die Universitäten geschlossen undStudenten wie Gymnasiasten aufs Land zur Umerziehung geschicktwurden.
So sieht es für Luo und seinen Freund in Sijies Erzählungzunächst ziemlich düster aus, als sie zur Umerziehung in einwinziges Bergdorf kommen. Sie stammen beide aus «bourgeoisenFamilien», die zu Volksfeinden erklärt worden sind, und werdendementsprechend hart von den «revolutionären Bauern» behandelt. Diedreckigste Arbeit - mit Fäkalien die Felder düngen - müssen diebeiden 17 - und 18-jährigen Jungen leisten.
Doch bald freunden sie sich in benachbarten Ortschaften mit einerbildhübschen Schneiderin und einem ebenfalls zur Umerziehung aufsLand verschickten Studenten an, der einen Koffer mit westlichenBüchern versteckt hält. Luo und seinen Freund kostet es viel Mühe,dem Brillenschang, wie sie ihn nennen, Bücher zu entlocken -schließlich klauen sie ihm den Koffer. Balzac, Dostojewski undandere Klassiker der Weltliteratur sorgen für Abwechslung in ihremtristen Leben.
Zwischen Luo und der Schneiderin entwickelt sich einLiebesverhältnis. Der Junge will der einfachen jungen Frau mit Hilfeder Bücher Bildung vermitteln. Nebenher macht er ihr ein Kind, dassie abtreiben muss. Aber die «Umerziehung» der kleinen Schneiderinhat mit Balzacs Hilfe so gut funktioniert, dass sie ihr Leben selbstin die Hand nimmt. Sie verlässt das Dorf, ihren Vater und Luo, um inder Stadt zu leben. Die beiden jungen Männer trösten sich mit demBücherkoffer und der Gewissheit, dass ihre Art der Umerziehunggeklappt hat. Die pfiffige Erzählung ist nicht nur ein Meisterwerkder Ironie, sondern auch eine anmutige Liebesgeschichte.
Dai Sijie: Balzac und die kleine chinesische Schneiderin. Roman; Piper Verlag, München/Zürich, 200 S., DM 33,99/Euro 17,38 (ISBN 3-492-04289-9)