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China und das Fahrrad

Von Imke Hendrich 02.08.2008, 08:27

Berlin/dpa. - Berlin ­ Der letzte Kaiser Pu Yi soll ausgelassen auf zwei Rädern durch die Verbotene Stadt gefahren sein, ob der «Große Vorsitzende» Mao Tsetung sich dagegen jemals auf einen Sattel wagte, ist nicht zweifelsfrei überliefert.

Das Fahrrad ist in westlichen Augen bis heute schier untrennbar mit dem Bild vom Reich der Mitte verbunden. «Tatsächlich bestimmten Radfahrer von den 1940er bis in die 1990er Jahre das städtische Straßenbild in China», erzählt Amir Moghaddass, Berliner Sinologe und weltweit nach eigener Einschätzung einer von zwei westlichen Wissenschaftlern, die sich mit der Geschichte des Fahrrads in China eingehender befassen.

Heute gibt es in der Volksrepublik China zwar schätzungsweise 500 Millionen Drahtesel, doch auf den Straßen von Mega-Metropolen wie Peking, Shanghai oder Tianjin sind es längst die Autofahrer, die das Sagen haben. «Die Radfahrer sind quasi entmachtet worden» ­ fast zum Freiwild degradiert. Wo es noch vor wenigen Jahren breite, vom motorisierten Verkehr abgetrennte Fahrrad-Spuren gab, müssen sich heute die radelnden Chinesen vor rücksichtslosen Autofahrern in Acht nehmen. Also lieber zurück zu den Anfängen und dem bald einsetzenden Siegeszug des Fahrrades (im heutigen Chinesisch zumeist zixingche genannt ­ das selbst zu bewegende Fahrzeug) im Reich der Mitte:

Einfach hatten es die ersten ausländischen Fahrradfahrer, die sich ins kaiserliche China vorwagten, allerdings keineswegs. Von einer Mischung aus Neugierde und Feindseligkeit unter der Bevölkerung kunden Berichte, die die ersten Fahrrad-Weltreisenden in den frühen 1890er Jahren auf ihren «Abenteuertouren per Drahtesel» in China unternahmen. Ja, sogar bewaffnet waren die Weltenbummler, um sich zur Not gegen den Mob zur Wehr setzen zu können. Das galt auch für den Pionier Thomas Stevens, der bereits 1886 mit seinem Hochrad - wegen der schlechten Straßen musste er es allerdings zumeist schultern ­ als erster das Fahrrad in China vorgeführt hatte.

Moghaddass vermutet, dass Gründe für die überlieferten Übergriffe vor allem kulturelle Missverständnisse waren. «Bis Ende des 19. Jahrhunderts fiel es den Chinesen schwer, sich mit dem aus dem Westen kommenden Fahrrad anzufreunden.» Sie empfanden diese Art der sportlichen Betätigung gar als würdelos. Doch um die Jahrhundertwende erkannten vor allem dem Westen zugewandte Chinesen das Fahrrad als modernes Fortbewegungsmittel und sie schwangen sich auf den Sattel.

Sie wollten damit auch ihre Abkehr vom Traditionellen beweisen. Das Fahrrad sei «so praktisch» und bringe einen «wo immer man hinwolle», schwärmte etwa der Journalist Chen Leng. Das sahen seine Landsleute offenbar bald ein und um 1920 wurde der Drahtesel ein normales Verkehrsmittel in den chinesischen Städten. In den 1930er Jahren hielt er dann auch Einzug im ländlichen Raum.

In den Metropolen gab es Anfang der 1940er Jahre die ersten Fahrrad-Parkplätze. Jahrzehntelang waren diese dann nicht mehr aus dem Stadtbild wegzudenken. Gegen Gebühr stellte man dort seinen Drahtesel ab. Falschparker wurden (zumindest so geschehen in Nanjing in den 1990er Jahren) mit einer Art «Parkkralle» an der Fahrerflucht gehindert und vergleichsweise kräftig zur Kasse gebeten, sobald sie zu ihrem Gefährt zurückkehrten. Heute gibt es diese Parkplätze dagegen nur noch selten.

Während der Hochzeiten der radelnden Massen in China kam die Fahrradindustrie, die um 1930/40 schier aus dem Boden schoss, kaum der Nachfrage hinterher. Räder mit Namen wie «fliegender Vogel», «weißes Pferd» oder «alter fliegender Adler» liefen vom Band. Die jährliche Fahrrad-Produktion stieg von 80 000 (1952) auf 8,5 Millionen (1978) und weiter auf 41,4 Millionen (1988).

Während es noch bis in die 1990er Jahre hinein die erwähnten abgetrennten Fahrrad-Fahrspuren in großen Städten gab, sind heute viele Straßen für Radler gesperrt, weil sie die Autofahrer stören könnten. «Das Fahrrad ist aber dennoch nicht von den Straßen Chinas weggefegt und gerade die Jugend entdeckt zunehmend etwa Mountainbikes», meint Moghaddass. Allerdings leben die Chinesen, die sich per Fahrrad etwa durch den Verkehr der Olympia-Stadt Peking quälen, äußerst gefährlich. (dpa)