Bosseln Bosseln: Sommerspiele an der Nordsee
He löpt noch. - He löpt noch - wo das Land platt ist, wird auch platt gesprochen. Hochdeutsch heißt das: Sie rollt noch, aus dem Weg und Füße weg! Der Warnruf ist immer dann zu hören, wenn auf Ostfrieslands Straßen kleine Menschengruppen den Lauf einer Kugel solange gebannt verfolgen, bevor diese "van Patt aff kummt", also im Graben landet oder auf einer Wiese liegen bleibt.
Ob es dann Lob und Anerkennung gibt oder Hohn und Spott hagelt, hängt von den zurückgelegten Metern ab. Geht anschließend ein Werfer vom Konkurrenz-Team in Position, um sein Sportgerät jeweils vom Landepunkt des Vorwerfers seiner Mannschaft auf den Asphalt zu schleudern, stellt er sich einer sportlichen Herausforderung, die Küstenbewohner allemal höher bewerten, als die Verantwortung eines Fußballschützen beim Elfmeter.
"Boßeln" (mit langem "o") heißt der Volkssport Nummer eins an der Waterkant, der Fußball um Längen schlägt. Dabei ist eine faustgroße 1 100 Gramm schwere Boßel (Kugel) so zu schleudern, dass sie möglichst "lang up de Straße löpt". Was dem Rest der Nation die Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika ist, das sind den Ostfriesen zwischen Rechtsupweg und Ovelgönne ihre Dorf- und Landesmeisterschaften, die für jeden Nichtfriesen nur Böhmische Dörfer sind. Sieger ist die Mannschaft, die eine bis zu sechs Kilometer lange Strecke mit den wenigsten Würfen überwindet.
Küstenurlauber, die selber einmal Hand anlegen wollen, dürfen von Frühjahr bis Sommer mit echten Profis auf die Straße gehen: In Aurich, Wittmund oder Leer, im Ammerland oder im Oldenburger Land bieten Vereine Boßel-Touren für Erwachsene und Kinder an. Wer diese heimatkundliche Openair-Variante des Ostfriesen-Abiturs meistern will, kann ohne viel zu büffeln mit etwas Geschick und viel Humor "Sitten und Gebräuche" der Ostfriesen kennen lernen.
Zum Beispiel auf einer schmalen Straße bei Wittmund. Der scheinbar endlosen Sicht über die ostfriesische Marschlandschaft stellen sich nur ein paar Bauernhöfe, dafür um so mehr Windräder in den Weg. Wo morgens der Milchwagen rumpelt und hier und da ein Bauer das einzige menschliche Wesen zwischen dem mit weißen Wolken betupften blauen Himmel und der platten Erde zu sein scheint, hat sich eine Schar "Außerfriesischer" zum "Abitur" versammelt. "Immer flach werfen" ruft Lothar Sobotta und schließlich: "Laat 'n rulln" (lasst die Kugel rollen). Drei Kilometer sind zu absolvieren, bevor das touristische Dutzend statt der Kugel eine vom Bürgermeister höchst persönlich unterzeichnete Urkunde in den Händen hält.
40 bis 50 Straßenmeter gehen den meisten Greenhörnern flott von der Hand. Manch einer "Landratte" aus der Großstadt, die Tipps wie "Liek ut Hand" (schnell aus der Hand) oder "över d' Duum" (über den Daumen) befolgt, der Kugel den richtigen Drall gibt und so selbst knifflige Kurven überlistet, gelingt im Handumdrehen ein 100 Meter-Wurf. "Haalt - ne wech lo-pen", bittet der Finanzangestellte seine Prüflinge, nach dem Wettkampf noch zu bleiben. Zu Ende ist der friesische "Schultag" nämlich erst nach dem obligatorischen und lautstarken Boßler-Ruf. "Fleu herut" - wirf weg!"
Für Touristen dauert die "Boßelsaison" übrigens von Juni bis September. Von November bis März werden auf Ostfrieslands Straßen Landesmeisterschaften und lokale Boßel-Wettkämpfe ausgetragen. Viele Urlaubsorte bieten in dieser Zeit Veranstaltungen an, über die die Touristenbüros Auskunft geben.
Ostfriesland Tourismus GmbH:
Tel. 0491 / 9196 96 62