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Baltikum Baltikum: Immer wieder deutsche Spuren

Von Jakob Lemke 19.03.2004, 09:16
Prachtvolle Architektur kündet in Riga von den Zeiten der Hanse und der Gilden. Besucher können im Baltikum immer wieder Spuren einer deutschen Vergangenheit entdecken. (Foto: dpa)
Prachtvolle Architektur kündet in Riga von den Zeiten der Hanse und der Gilden. Besucher können im Baltikum immer wieder Spuren einer deutschen Vergangenheit entdecken. (Foto: dpa) Baltikum Tourismus Zentrale

Riga/Vilnius/dpa. - Gisela Heinrich ist überrascht. «Das sind doch die Bremer Stadtmusikanten!», ruft sie und bleibt mit ihrer Reisegruppe vor einer mannshohen Bronzeskulptur stehen - allerdings nicht in Bremen, sondern in der Altstadt von Riga. In der lettischen Hauptstadt erinnern außerdem die Petrikirche aus rotem Backstein, der steinerne Roland auf dem Rathausplatz und der Schlüssel im Wappen an Bremen. Beide Städte sind durch ein Partnerschaftsabkommen verbunden. Wie in Riga können deutsche Urlauber aber auch in anderen Städten der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die am 1. Mai der Europäischen Union beitreten, immer wieder deutschen Spuren begegnen.

In Riga hat die Verbindung nach Deutschland eine gut 800-jährige Geschichte. 1201 wurde die Stadt vom Bremer Bischof Albert gegründet. In der Folge entwickelte sich ein wichtiges Zentrum für den Handel zwischen Russland und Westeuropa. Die auf den Ruf von Bischof Albert hin zugewanderten deutschen Kaufleute und Handwerker bestimmten Jahrhunderte lang die Stadtpolitik. Stumme Zeugen der einstigen Macht sind die Gebäude der Großen und der Kleinen Gilde und das wieder aufgebaute Schwarzhäupterhaus. «Dass wir eine deutsche Vergangenheit haben, wissen die meisten. Aber bei den einzelnen Sehenswürdigkeit muss ich viel erklären», sagt die Reiseleiterin Ingune Bumane.

Ganz ähnlich ist es in Estlands Hauptstadt Tallinn. Auch dort zählen das Schwarzhäupterhaus und das Gebäude der Großen Gilde aus dem Jahr 1410 zu den historischen Schätzen der Altstadt. Einer der mächtigsten Türme der in Tallinn komplett erhaltenen Stadtmauer trägt bis heute den plattdeutschen Namen «Kiek in de Kök»: Von seiner Spitze aus konnten die Wachen in die umliegenden Küchen spähen.

Das Museum im Turm klärt über den Unterschied zwischen Ober- und Unterstadt auf. Lebten unten Händler und Handwerker, so residierten auf dem Domberg die Ritter. Vereint im Deutschen Orden, hatten sie am Anfang des 13. Jahrhunderts Nordestland erobert. Von hier regierten sie die Republik bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, auch wenn die Oberherrschaft zwischen Dänen, Schweden und Russen wechselte.

Auch die Provinzen Kurland und Livland westlich und nördlich von Riga waren einst Gutsherrenland. Auf dem Rücken der Einheimischen errichteten die Nachkommen der Ritter blühende Landgüter. Sie geben noch heute ein Zeugnis ab von der Pracht auf dem Lande. Besonders stattliche Anlagen aus dem 19. Jahrhundert gibt es östlich von Tallinn im Lahemaa-Nationalpark. Frisch renoviert, dienen einige mittlerweile als luxuriöse Hotels und Restaurants.

Viele Esten und Letten denken trotz der Unterdrückung auch voller Anerkennung an die Zeit deutscher Adelsherrschaft zurück. «Das Erbe der Estländischen Ritterschaft spiegelt sich sowohl in der estnischen Staatlichkeit als auch in der estnischen Kultur wieder. Wollen wir es gemeinsam bewahren und pflegen», sagte der estnische Präsident Rüütel zur Feier des 750-jährigen Bestehens der Ritterschaft.

Die vielfältigen deutschen Spuren im Baltikum sind ein Grund für den stetig steigenden Besucherstrom aus Deutschland. «Die Leute haben durch den bevor stehenden EU-Beitritt ihre Skepsis vor diesen ehemaligen Ländern der Sowjetunion verloren», sagt Ulla Sperling von der Baltikum Tourismus Zentrale in Berlin. «Wir haben in den letzten Jahren zweistellige Zuwachsraten. Das wird sich auf jeden Fall fortsetzen.» 2002 wurden in Estland, Lettland und Litauen mehr als 300 000 deutsche Touristen gezählt. Viele besuchten alle drei Länder.

«Hauptziele sind die Hauptstädte Tallinn, Riga und Vilnius, und im Sommer geht sehr viel auf die Kurische Nehrung», sagt Sandy Handt vom Baltikum-Anbieter Schnieder Reisen in Hamburg. Die Kurische Nehrung, einst der nordöstlichste Vorposten Preußens und später des Deutschen Reiches, ist «fest in deutscher Hand». Die Menüs der vielen kleinen Lokale sind zweisprachig, Schilder werben für «Fahrräder mieten».

Der natürliche Reiz der Nehrung hat es vielen deutschen Dichtern, Malern und Musikern angetan, darunter Thomas Mann. «Wir verbrachten einige Tage in dem Fischerdorf Nidden (Nida) und waren so erfüllt von der unbeschreiblichen Eigenartigkeit und Schönheit dieser Landschaft, dass wir beschlossen, in dieser fernen Gegend ein Sommerhaus errichten zu lassen», schrieb der Literatur-Nobelpreisträger 1931.

Drei Sommer verbrachte Thomas Mann hier, bevor ihn die Nazis aus Deutschland vertrieben. Mit der Zeit der Nationalsozialisten enden die deutschen Spuren im Baltikum - und sie enden blutig.

Nach der Umsiedlung fast aller Deutschen aus dem Baltikum 1940 begann im Sommer 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion. Er war zugleich ein Krieg gegen die jüdische Bevölkerung, die in Litauen fast zehn Prozent der Bevölkerung stellte. Hunderttausende Juden wurden innerhalb weniger Monate von den SS-Kommandos und einheimischen Helfern ermordet. Die Überlebenden trieb man in Ghettos oder ins Konzentrationslager Kaiserwald bei Riga. Gedenkstätten erinnern heute am Stadtrand von Vilnius und Riga an ihr Schicksal.

Informationen: Baltikum Tourismus Zentrale, Katharinenstraße 19, 10711 Berlin (Tel.: 030/89 00 90 91, Fax: 030/89 00 90 92)