Tour de France Tour de France: Jan Ullrich und sein größter Sieg vor 20 Jahren

Köln - Es ist bereits angenehm warm an diesem Morgen in den Pyrenäen. Jan Ullrich mag das. Je heißer, desto besser. Ullrich rollt mit einem Lächeln an den Start der zehnten Etappe der Tour de France in Luchon inmitten der französischen Pyrenäen. Der 23 Jahre alte Radprofi, als Helfer des Dänen Bjarne Riis eingeplant, fühlt sich wohl in seiner Rolle als Kronprinz des dänischen Vorjahressiegers. Keine Verantwortung, aber gute Beine. Nichts deutet an diesem Vormittag darauf hin, dass sich daran etwas ändern könnte. Was der Mann mit den lustigen Sommersprossen am Morgen des 15. Juli 1997 nicht ahnte: Dieser Tag würde sein Leben verändern.
Es war der Tag, an dem ihm sein damaliger Telekom-Teamchef freie Fahrt geben sollte. Es war der Tag, an dem er in die Herzen der Deutschen radelte.
20 Jahre ist es her, dass Ullrich auf dem Weg zur Skistation Andorra-Arcalis aus dem Schatten seines Chefs hinein ins Gelbe Trikot gefahren ist. Ein historisches Ereignis. Denn er wird es bis Paris nicht mehr ausziehen. Jan Ullrich gewinnt als erster Deutscher die Tour de France, und in einer ganzen Nation grassiert das Gelbfieber. Ullrich tritt ein in den deutschen Sport-Olymp, der junge, gebürtige Rostocker wird plötzlich in einem Atemzug etwa mit Boris Becker oder Michael Schumacher genannt. Die Journalisten überbieten sich in Superlativen. In der französischen Sporttageszeitung „L’Équipe“ wird er zum „neuen Kaiser“ der Tour erhoben, und auch das ist dort zu lesen: „Voilà le patron“ – sieh’ da, der neue Chef.
Der neue Star
Jan Ullrich ist der neue Star in der Welt des Radsports. Ein Märchen. Ein geglückter Ausreißversuch nach ganz oben. Auf den Gipfel seiner Zunft.
Niemand ahnt damals, was heute Gewissheit ist. Die selbst ernannten Saubermänner waren Schmuddelkinder. Doping hatte im Team Deutsche Telekom offenkundig System: Das Blutdopingmittel Erythropoietin, kurz Epo, war fester Bestandteil der Spritztour. Sieben seiner ehemaligen T-Kollegen haben dies im Frühjahr 2007 zugegeben. Eine Geständniswelle schwappte über Deutschland hinweg. Ullrich erreichte sie nicht.
Das lange Schweigen
Er schwieg. Sein Rücktritt vom aktiven Leistungssport am 26. Februar 2007 war eine Farce. Ulrich nutzte seinen Monolog bei einer eigens in Hamburg einberufenen Pressekonferenz ohne Fragemöglichkeit zu einem Rundumschlag. Getroffen hat er aber nur sich selbst. Seine Verbindung zum spanischen Dopingarzt Eufemiano Fuentes galt zu diesem Zeitpunkt längst als erwiesen. Erst sechs Jahre später sollte Ullrich die Zusammenarbeit mit dem spanischen Blutpanscher gestehen. Anfang Februar 2012 war er bereits vom Internationalen Sportgerichtshof schuldig gesprochen worden, gedopt zu haben und wurde mit einer zweijährigen Sperre belegt.
Bis heute wartet die Öffentlichkeit allerdings vergeblich auf ein umfassendes Dopinggeständnis des Olympiasiegers von Sydney 2000. „Zu diesem Thema kann ich nur sagen, dass ich einen Fehler gemacht habe, den ich bereue“, sagte der heute 43-Jährige vor dem Grand Départ der Tour de France 2017 der „Welt“. Welchen Fehler? Ullrich ging nicht ins Detail. Er fühle sich ungerecht behandelt, verfolgt vom Schatten der Vergangenheit, aus dem er selbst nie herausgetreten ist. „Die Deutschen schauen am liebsten zurück. Ich bin seit mehr als zehn Jahren raus, und immer noch wird bei mir über Doping geredet“, beklagte der mittlerweile auf Mallorca heimische Ullrich in der „Bild“. Jeder habe doch eine zweite Chance verdient. Dazu gehört es aber auch, reinen Tisch zu machen. Das schienen auch die Düsseldorfer Organisatoren des Eröffnungszeitfahrens der diesjährigen Frankreich-Rundfahrt so zu sehen. Auf der Liste der Ehrengäste fehlte Ullrichs Name.
Nicht bei „Rund um Köln“
Über zehn Jahre sind die Fuentes-Wirren um Ullrich mittlerweile her. Artur Tabat, der Organisator des rheinischen Traditionsrennens „Rund um Köln“, fand Anfang des Jahres, dass es nun genug sei mit der Büßhaltung des einstigen Superstars. Tabat und Ullrich verbindet eine tiefe Freundschaft. Und Ullrich zahlte zurück. 2003 gewann er in Köln.
Tabat hatte Tränen in den Augen. Und 14 Jahre später fand er, Ullrich könne Sportlicher Leiter seines Rennens im Juni 2017 werden. Der ehemalige Radrennprofi erklärte sich bereit zum Ehrenamt. Denn Tabat drückte es wie Ullrich aus: „Jeder hat eine zweite Chance verdient.“
Doch der Kölner unterschätzte die Widerstände. Und Ullrich, der sich bei „Rund um Köln“ wieder im Profiradsport zeigen wollte, spürte schnell, dass er nicht willkommen ist – und trat nur ein paar Tage später von dem Posten, den er nie besetzte, wieder zurück.
Schon vor seiner Suspendierung anlässlich des Tourstarts 2006 durch seinen damaligen Arbeitgeber T-Mobile war er ins Visier der Dopingjäger geraten. Seine Karriere geriet 2002 erstmals ins Stocken. Ullrich war positiv auf Amphetamine getestet worden. Angeblich habe ihm ein Unbekannter in einer Diskothek Ecstasy untergejubelt. Die Sportgerichtsbarkeit folgte Ullrichs Darstellung und sperrte ihn sechs Monate für ein Drogendelikt. Eine lässliche Sünde. Vergeben und nicht mehr hinterfragt. Es kann schließlich nicht sein, was nicht sein darf.
Ein fehlbarer Mensch
Während die übermenschlichen, maschinenhaften Leistungen von Ullrichs texanischem Dauerrivalen Lance Armstrong – zu Recht, wie wir heute wissen – stets mit Argwohn beäugt wurden, grimassierte sein deutscher Kontrahent an dessen Hinterrad die Berge hinauf. Anders als der Perfektionist und mittlerweile geständige Dauerdoper Armstrong blieb Ullrich aber immer auch ein fehlbarer Mensch. Während Armstrong an Weihnachten angeblich trainierte, futterte sich Ullrich den Winterspeck an, über den der Boulevard dann mit der Regelmäßigkeit von Ebbe und Flut im Frühjahr ablästerte – vor allem mit Fotos.
Das alles machte Jan Ullrich irgendwie auch sympathisch. Und ganz Deutschland fragte sich: Sind wir nicht alle ein bisschen Ullrich? Die Nation glaubte damals fest an ihren Radsporthelden und dessen großen Traum, die Tour de France ein zweites Mal nach 1997 zu gewinnen – und den unschlagbaren Armstrong doch noch zu bezwingen. Doch dazu kam es nie.
Vielleicht wird auch Ullrich in diesen Tagen zurückdenken an jenen Nachmittag im Juli 1997, als er in seinem schmucken weißen Trikot mit dem schwarz-rot-goldenen Brustring des deutschen Meisters die letzte Rampe nach Andorra-Arcalis hinaufgekraxelt war. Vielleicht erinnert er sich auch an seine beiden Verfolger Richard Virenque aus Frankreich und den Italiener Marco Pantani, die mit mehr als einer Minute Verspätung das Plateau erreichten.
Auch sie haben – natürlich – ihre Dopinggeschichte: Virenque steht im Jahr darauf im Zentrum des Festina-Skandals, Pantani wird 1999 in Führung liegend wegen eines erhöhten Hämatokritwertes, der auf Epo-Doping hinweisen könnte, aus dem Giro d’Italia genommen. Fünf Jahre später stirbt der Italiener in einem Hotelzimmer an einer Überdosis Kokain.
Ullrichs Logik
Pantani ist bis heute der letzte Fahrer, der Giro und Tour im selben Jahr (1998) gewann – allerdings mit Epo im Blut, wie eine Untersuchungskommission des französischen Senats 2013 herausfand. Auf 238 Seiten berichteten die Fahnder über flächendeckendes Doping bei der Tour de France 1998. Unter den vielen Delinquenten ist auch der Namen des Toursiegers von 1997: Jan Ullrich. Der hatte stets beteuert, „nie einen anderen Fahrer betrogen zu haben“.
Seiner Logik folgend, bleibt die Frage: Wo ist der Betrug, wenn alle betrügen?