Titelkämpfe in Trondheim „Ziemlich abgeschifft“: Skispringer geplagt zur WM
Das deutsche Skisprung-Team ist relativ alt - und seit Monaten erfolglos. Nach einer Phase der Tristesse kommt die WM zur Unzeit. Eine Serie wackelt in Trondheim.
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Trondheim - Die Abrechnung von Sven Hannawald fällt schon vor der WM knallhart aus. „Gerade sind wir an einem Punkt, an dem wir darüber reden müssen, dass es die schlechteste Saison überhaupt werden könnte“, sagte der Skisprung-Olympiasieger von 2002 über die seit Monaten andauernde Misere.
Schwache Sprünge, keine Konstanz, verunsicherte Sportler und ein ratloser Chefcoach: Lange waren die Sorgen bei den deutschen Adlern nicht mehr so groß und umfassend wie derzeit. Und ausgerechnet jetzt steht nach der verpatzten Vierschanzentournee der zweite Saisonhöhepunkt an, die WM im norwegischen Trondheim.
Bundestrainer Stefan Horngacher gibt sich nach wochenlanger Chancenlosigkeit erst gar keine Mühe, die Situation schönzureden. „Wir sind ziemlich abgeschifft. Die Gründe dafür sind natürlich vielfältig“, sagte der Österreicher. Die aktuelle Situation sei bei allen Athleten „völlig unzufriedenstellend“.
Team ist über 30 Jahre im Schnitt
Blickt man auf den von Andreas Wellinger angeführten Kader und die Ergebnisse seit Dezember, ist das nach Skandinavien gereiste Quintett kein Team von heute oder gar von morgen – sondern eher ein Team von gestern. Mit einem Schnitt von 30,4 Jahren ist Deutschland die mit Abstand älteste Topnation.
Wellinger gilt noch immer als das junge deutsche Gesicht, wird im Sommer aber bereits 30. „Das macht uns auch Sorge und da machen wir uns tagtäglich Gedanken drüber, wie wir Leute von hinten nachschieben können“, sagte Sportdirektor Horst Hüttel.
Pius Paschke (34), Karl Geiger (32) und Stephan Leyhe (33) befinden sich in ihrem Karriereherbst und haben ihre größten Erfolge wohl hinter sich. Während in Österreich Talente wie Vierschanzentournee-Sieger Daniel Tschofenig oder Hoffnungsträger Maximilian Ortner nachkommen, kommt in Deutschland: nichts.
Der 24 Jahre alte Philipp Raimund als jüngster WM-Starter springt seit Jahren im Weltcup mit und wartet auf den Sprung in die absolute Weltspitze - bislang vergeblich. Es droht ein Absturz, wie ihn zuletzt die Polen nach goldenen Jahren mit Kamil Stoch, Dawid Kubacki und Piotr Zyla erlebten.
Hannawald sieht Probleme beim Material
Woran liegt die derzeitige Krise, die an die miserablen deutschen Skisprung-Jahre zwischen 2004 und 2012 erinnert? Geht es nach Hannawald, tragen die Athleten nicht die alleinige Schuld. „So viele Fehler kann man innerhalb dieser Zeit gar nicht in einen Sprung einbauen. Aus meiner Sicht sind die Probleme materialbedingt“, sagte Hannawald dem Nachrichtenportal web.de. Am Anfang der Saison, als Routinier Paschke reihenweise Wettbewerbe gewann, schien das Material noch ein Trumpf zu sein.
In Trondheim haben Wellinger und Co. ab Sonntag (17.00 Uhr/ZDF und Eurosport) vier Chancen auf Edelmetall. In den beiden Einzelkonkurrenzen sind die Chancen überschaubar. „Wir sind in der Rolle, dass wir ohne Erwartungen nach Trondheim fahren können. Wir sind nicht die Favoriten, das ist uns bewusst“, sagte Wellinger. Er kennt die Hochs und Tiefs dieser Sportart. Der Bayer war mit 18 Olympiasieger und mit 26 nach schwerer Verletzung sportlich am Boden.
Rettung im Mixed?
„Ich habe in meiner Karriere schon deutlich Schlimmeres erlebt. Ich bin mal im Fis-Cup im ersten Durchgang ausgeschieden. Das sind dann wirklich die Schattenseiten“, beschrieb Wellinger. Deswegen scheine für ihn derzeit „immer noch die Sonne“. Für sein Team als Gesamtes gilt das nicht.
Denn auch im Teamspringen ist Deutschland klarer Außenseiter. Rettungsanker im Kampf gegen die erste medaillenlose WM seit 2007 in Sapporo könnte dank des starken Frauen-Duos Selina Freitag und Katharina Schmid das Mixed sein, bei dem Deutschland seit 2015 ein Gold-Abo bei der WM hat.
Hüttel: „Dinge auf den Prüfstand“
Während Freitag (23) und Schmid (28) im besten Sportlerinnenalter sind, steht bei den Männern der Umbruch unmittelbar bevor. Olympia 2026 in Italien könnte eine Zäsur markieren. Doch bis dahin sind noch eine WM und ein weiterer Weltcup-Winter zu absolvieren.
Sportdirektor Horst Hüttel vergleicht das aktuelle Team mit einem Boxer, der Nehmerqualitäten brauche. WM hin oder her, der Funktionär sieht Analysebedarf für die Zeit nach der Saison. „Wir werden nicht drumherum kommen, nach der Saison ein paar Dinge auf den Prüfstand zu stellen“, sagte Hüttel. Daran würde auch eine Medaillen-Überraschung in Trondheim nichts ändern.