Schach-Weltmeisterschaft Vichys Kinder: Indien fiebert mit Schach-Teenager Gukesh
Großmeister Viswanathan Anand hat einst in Indien eine große Schachbegeisterung ausgelöst. Ein 18-Jähriger will bei der WM in dessen Fußstapfen treten. Kann der Teenager mit der großen Last umgehen?
Singapur/Neu-Delhi - Dommaraju Gukesh bleibt äußerlich ruhig. Der 18-jährige Inder hat zwar gerade überraschend das erste Spiel der Schach-WM verloren. Er sei anfangs etwas nervös gewesen, räumt der Herausforderer von Weltmeister Ding Liren aus China ein. Und später habe er auch noch „eine Art Schnitzer“ gemacht. Aber das auf maximal 14 Spiele angesetzte Duell dauere noch lange; seinen Plan werde er nicht ändern, betont Gukesh, der als Favorit zum WM-Finale nach Singapur reiste. Der Teenager wirkt selbstbewusst.
Dabei liegt auf Gukesh eine riesengroße Last. Millionen indischer Schachfans hoffen, dass ihr junger Landsmann in die Fußstapfen des großen Viswanathan Anand tritt. Vichy, wie er in der Schachwelt liebevoll genannt wird, war nicht nur Indiens erster und bislang einziger Weltmeister in dem Denksport. Mit seinen Erfolgen trat er im bevölkerungsreichsten Land der Erde eine Welle der Schachbegeisterung los, die bis heute anhält. Gukesh gehört zur Generation junger Talente, die auch „Vichys Kinder“ genannt werden.
Schachbegeistertes Indien
Gukesch hat es in der Phalanx der indischen Großmeister fast ganz nach oben geschafft. Jetzt fehlt eigentlich nur noch der Triumph in Singapur. Die Erwartungen schürt er selbst sogar noch. „Mein Land zu repräsentieren und die Hoffnung der Inder zu tragen, ist etwas, das ich sehr ernst nehme“, sagt er zum WM-Auftakt. Gegen den 32 Jahre alten Titelverteidiger Liren tritt er als jüngster Herausforderer in der 138-jährigen Geschichte der Schach-Weltmeisterschaften an. Kommentatoren sprechen von einem Generationenkampf.
Insbesondere aus Indien rücken immer mehr jüngere Spieler in immer kürzeren Zeitabständen in die Weltspitze vor. Allein in den Top Ten des Weltverbands Fide stehen im November 2024 gleich drei indische Spiele, darunter Altmeister Anand auf Platz zehn. Gukesh ist Fünfter, Landsmann Arjun Erigaisi rangiert sogar noch einen Platz davor.
Das Finale von Singapur aber erreichte Gukesh dank des Siegs beim WM-Kandidatenturnier. Er ließ im April in Kanada namhafte Gegner wie Vizeweltmeister Jan Nepomnjaschtschi aus Russland hinter sich. Schachikone Garri Kasparow, der 1985 mit 22 Jahren der damals jüngste Weltmeister der Schachgeschichte war, sprach bildhaft von einem „indischen Erdbeben in Toronto“.
Seine Erfolge setzte Gukesh bei der Schacholympiade 2024 in Budapest fort, wo er Mannschafts-Gold mit dem indischen Team holte. In das Duell gegen Ding Liren, der nach seinem WM-Sieg im vergangenen Jahr infolge psychischer Probleme eine Schwächephase durchlief und in diesem Jahr keine klassische Schachpartie gewann, ging Gukesh deshalb als Favorit.
Schachakademien und Online-Schachboom
Den Szene-Jungstar hatten seine Eltern schon früh von der Schule genommen, um ihm mehr Zeit für Schach zu geben. Er entwickelt seine Spielfähigkeiten unter anderem auf der Plattform der Westbridge Anand Chess Academy weiter. Sie wurde 2020 in Partnerschaft mit dem Ex-Weltmeister gegründet.
Er könne Vichy nicht genug dafür danken, nicht nur für ihn persönlich eine Inspiration zu sein, sondern auch, dass er zur Entwicklung der nächsten Schach-Generation beigetragen habe, sagt Gukesch in Singapur. „Seine Akademie hat vielen Jüngeren geholfen.“ Vichy sei der wichtigste Grund dafür, was Schach in Indien heute sei. „Er spielt eine enorme Rolle in meinem Leben.“
Die Zahlen sprechen für sich: Bis 1999 habe Indien nur drei Schach-Großmeister gehabt, rechnete die Zeitung „India Today“ nach. Seitdem habe das Land mehr als 80 hervorgebracht. Ein Grund für diese Entwicklung wird neben dem internationalen Online-Schachboom auch darin gesehen, dass zahlreiche Großmeister wie Anand ihre eigenen Schachschulen gegründet haben, nach Talenten Ausschau halten und sie trainieren.
Wenn er am stärksten spiele, mache Gukesh wie ein Schach-Computerprogramm nur die besten Züge. Das sagte der russische Großmeister Daniil Dubow am Rande des Turniers Tata Steel Chess India in diesem Monat in einem Interview der Zeitung „The Hindu“. Zu Zeiten der Sowjetunion habe es mal einen Spruch gegeben: „Jeder beliebige Spieler spielt besser als Du, wenn Du in die UdSSR kommst.“ Was damals für die Sowjetunion galt, das treffe im Schach heute auf Indien zu.