100 Jahre Weltschachverband Dame, König, KI: Schach und die Macht der Maschinen
Es ist eine Angst des Menschen: Maschinen dominieren ihre Erschaffer. Was nach Science-Fiction klingt, gab es im Schach schon vor über 250 Jahren - und ist dort längst real. Wie kam es dazu?
Berlin - Dem Gegner vor dem finalen Zug ein letztes Mal in die Augen schauen: Das ist schwierig, wenn auf der anderen Seite ein Computer sitzt. Einst spielten nur Menschen Schach. Als am 20. Juli vor 100 Jahren der Internationale Schachverband in Paris gegründet wurde, waren Künstliche Intelligenz (KI) und Duelle „Mensch gegen Maschine“ noch Ideen der Zukunft, könnte man meinen. Doch der Grundstein, dass Schach bei der KI-Entwicklung eine entscheidende Rolle spielt, wurde bereits davor gelegt.
Eine Maschine, die gar keine ist
Lange vor der Erfindung von Computern versetzt eine vermeintliche Maschine die Welt in Erstaunen: Der Ungar Wolfgang von Kempelen entwickelt seinen „Schachtürken“, um im Frühjahr 1770 die österreichische Kaiserin Maria Theresia zu beeindrucken. Wer davor steht, sieht eine dem Menschen nachempfundene Puppe hinter einem Spielbrett. In den Schränken darunter sollen unzählige Zahnräder angeblich dazu dienen, die Züge zu berechnen.
Über Jahrzehnte schlägt der „Schachtürke“ fast alle Herausforderer und begeistert das Publikum auf Tourneen durch Europa und Amerika. Unter den Gegnern sind berühmte Staatsmänner wie Friedrich der Große, Benjamin Franklin und Napoleon Bonaparte. Der Autor Edgar Allan Poe ahnt aber schon in den 1830er Jahren einen Betrug. Mitte des 19. Jahrhunderts entpuppt sich das Ganze dann tatsächlich als Schwindel: Ein versteckter Spieler im Geräteinneren bewegt bei Kerzenschein die Figuren mit Magneten. Eine Nachbildung ist im Heinz Nixdorf Museums Forum (HNF) in Paderborn zu sehen.
Ein Betrug, der inspirieren wird
Auch wenn der „Schachtürke“ eine Fälschung ist, sorgt er für die ersten KI-Anfänge. Denn bei einer Vorführung in London 1819 bestaunt ein englischer Mathematiker und Erfinder den Automaten. Charles Babbage sei fasziniert von der Idee gewesen, eine Maschine könne solch ein intelligentes Spiel meistern, schreibt das Deutsche Museum.
Im folgenden Jahrzehnt beschäftigt er sich mit der Konstruktion einer programmierbaren Rechenmaschine. In seinem Notizbuch notiert sich Babbage: „Jedes Geschicklichkeitsspiel kann von einem Automaten gespielt werden.“
Der erste wahre Schachautomat
Babbage ist damals seiner Zeit voraus und gilt heute als erster Computerpionier. Von seiner Apparatur gibt es nur Konstruktionspläne. Wäre sie ganz gebaut worden, hätte sie die Größe einer Lokomotive erreicht. Und trotzdem: Ohne seine Vorlage hätte sich ein spanischer Ingenieur und Mathematiker wohl nicht an den „ersten funktionsfähigen Schachautomaten der Weltgeschichte“ gewagt, wie das Deutsche Museum schreibt.
Leonardo Torres y Quevedo entwickelt „El Ajedrecista“ (deutsch: „Der Schachspieler“), der 1914 auf der Weltausstellung in Paris vorgeführt wird. Dabei handelt es sich um einen Endspielautomaten, bei dem nur noch drei Figuren auf dem Brett stehen: Den weißen König und Turm steuert die Maschine, den schwarzen König ein Mensch. Die Konstruktion benötigt Uhrmachertechnik und Elektromechanik. Quevedos Automat führt vor jedem eigenen Zug eine Fallunterscheidung durch. Heute wird diese Vorrichtung, die zuverlässig den gegnerischen König matt setzt, als eine der ersten KI-Gehversuche betrachtet.
Der eigentliche Beginn der Schachcomputertechnik ist auf das Ende der 1950er Jahre datiert: Mensch und Maschine sind erstmals in der Lage, eine ganze Partie gegeneinander zu spielen. IBM-Ingenieur Alex Bernstein demonstriert sein Programm, das auf einem im Vergleich zu heute monströsen IBM 704-Rechner läuft. Der Computer benötigt damals etwa acht Minuten pro Zug.
Die Technik schlägt letztlich den Menschen
Über die Jahrzehnte werden Rechner und Software immer besser - und zwar so gut, dass im Spiel „Mensch gegen Maschine“ der Computer triumphiert. Am 11. Mai 1997 besiegt der von IBM entwickelte „Deep Blue“ den damaligen Weltmeister Garri Kasparow nach sechs Partien. Der Rechner kann 200 Millionen Positionen pro Sekunde analysieren.
Kasparow zeigt sich zunächst als schlechter Verlierer, denn nach der spektakulären Niederlage wittert der Russe Betrug. „Der Wettkampf war nicht fair, es gab menschliche Eingriffe“, sagt er. „Computer fällen ihre Entscheidungen aufgrund von Berechnungen, niemals würde sich ein Computer für einen schlechter bewerteten Zug entscheiden“, erklärt Kasparow. „Deep Blue“ habe aber genau das getan. Auch wegen dieser Anschuldigungen verweigert IBM einen Rückkampf. Erst 20 Jahre später revidiert Kasparow seine Aussagen.
Das Schachspiel habe sich an die KI-Welt angepasst, erklärt der Russe 2023 in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. „Gewöhnliche Schachcomputer können leicht Weltmeister schlagen.“ Deshalb rate Kasparow, die Partien zu analysieren und von den Maschinen zu lernen.