Schach-WM Schach-WM: Armageddon ist der letzte Ausweg

London - Der Champion sieht müde aus. Sein Kopf, zwischen den Händen vergraben, hängt tief über dem Schachbrett. Die Lippen sind zusammengepresst, die Augenlider flattern. Magnus Carlsen, Schachweltmeister, ist bei der Arbeit. Zweieinhalb Wochen dauert der Kampf um die Weltmeisterschaft in London nun schon. Für den 27-jährigen Titelverteidiger steht viel auf Spiel: der WM-Titel – Garant für gut bezahlte Werbeverträge. Es geht um den Löwenanteil des Preisgeldes von einer Million Euro. Und um den prestigeträchtigen Platz 1 in der Weltrangliste, den Carlsen seit acht Jahren besetzt.
Herausforderer Fabio Caruana, der 26-jährige Italo-Amerikaner, will den norwegischen Champion vom Thron stoßen. In den vergangenen Monaten hat er sich Stück für Stück an Carlsen herangearbeitet. Nur noch die Winzigkeit von drei Weltranglistenpunkten trennt die Beiden.
Alle WM-Matches endeten remis
Zwölf Turnierpartien haben beide im WM-Match gespielt – alle zwölf endeten remis. Das gab es noch nie bei der Schach-Weltmeisterschaft, und die wird immerhin seit 1886 ausgetragen. Am Mittwoch (ab 16 Uhr MEZ) fällt in London die Entscheidung im Tiebreak. Zunächst werden vier Schnellschachpartien gespielt, immer abwechselnd erhalten die Spieler Weiß und Schwarz. Für die gesamte Partie erhält jeder Spieler 25 Minuten, nach jedem ausgeführten Zug gibt es einen Bonus von zehn Sekunden. Zum Vergleich: Eine Turnierpartie kann fünf bis sechs Stunden dauern, manchmal noch länger.
Schnelligkeit und Intuition
Steht es nach vier Schnellpartien immer noch unentschieden, folgen zwei mal zwei Blitzpartien mit fünf Minuten (plus zwei Sekunden Bonus pro Zug). Im Blitz kommt es vor allem auf die Reaktionsschnelligkeit und Intuition an. Für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass dann immer noch Gleichstand herrscht, folgt eine letzte Blitzpartie im „Armageddon-Modus“. Der Weiße bekommt eine Minute mehr auf der Uhr, dem Schwarzen reicht ein Unentschieden.
Titelverteidiger sorgte für Erstaunen
In der letzten, der zwölften WM-Partie, sorgte der Weltmeister für Erstaunen, als er seinem Gegner im 31. Zug ein Remis anbot, obwohl er zumindest etwas besser stand. Er sei nicht in der Verfassung für einen langen Kampf gewesen, meinte Carlsen nach der Partie. Überzeugend klang das nicht. Vielmehr dürfte das Unentschieden der Matchstrategie des 27-jährigen Norwegers entsprechen. Denn im Schnell- und Blitzschach gilt er als klarer Favorit. Caruanas Hauptstärke ist es, lange, verästelte Varianten von Zügen und den besten Gegenzügen im Kopf zu kalkulieren. Doch dazu braucht er Zeit, und die wird er heute nicht haben.
Über die Ursachen der Remis-Seuche und Gegenmittel wird in Schachkreisen heftig diskutiert. „Ob sie nicht glaubten, dass dies dem Ansehen des Schachs als Sport schade“, fragte der österreichische Journalist Anatol Witouch die beiden Spieler nach der zwölften Partie. Die aber wichen aus. Mit Ausnahme der letzten beiden Partien war der gesamte Wettkampf hart umkämpft, grobe Fehler gab es kaum. Beide Lager bereiten sich mithilfe starker Schachprogramme und riesiger Datenbanken auf jede einzelne Partie vor. Die Folge: Die Kontrahenten sind so gut, dass sie einander immer wieder neutralisieren. Und so fürchten nicht wenige Schachfreunde den baldigen Tod der klassischen Turnierschachs.
Entscheidung am Mittwoch
Zwölf Partien seien für einen WM-Kampf einfach zu kurz, 16 oder 18 Partien seien besser, dann würden die Spieler mehr riskieren, meinen manche. Andererseits: Ein WM-Kampf, der sich einen, zwei oder drei Monate hinstreckt – früher der Normalfall – ist heute kaum noch vorstellbar. Eine andere Idee scheint vielversprechender: Der Tiebreak wird vor dem Match ausgetragen. Dem Sieger würde dann im eigentlichen WM-Match ein Remis genügen.
Die Entscheidung wird im Internet auf zahlreichen Seiten live übertragen, etwa bei worldchess.com, bei chess.24 und bei chessbase.