Gründungsmythos RB Leipzig: Wie ein Sachsen-Anhalter des Red Bull-Klub erdachte
Leipzig/Hohenmölsen - Am Ende des Gesprächs schlug Roland Gall sanft mit der Hand auf den Tisch, lächelte und sagte: "Ich will mich nicht mit falschen Lorbeeren schmücken, aber die Tür aufgemacht hab’ ich!“ Der 65-Jährige saß in seiner Wohnstube in Hohenmölsen, etwa eine dreiviertel Autostunde von Leipzig entfernt. Gall war Rentner und seit 2003 arbeitslos, früher arbeitete er als Elektrikermeister. Er empfing in sportlicher Freizeitkleidung in seiner kleinen Genossenschaftswohnung. Gall atmete schwer, war aufgeregt wegen des Besuchs, seine Hände zitterten leicht. Gesundheitlich ging es ihm bereits im Sommer 2015 nicht besonders gut — die Hitze und das Herz. Es wurde sein letztes ausführliches Gespräch über seine Herzensangelegenheit RB Leipzig.
RB Leipzig polarisiert: Manche sehen in Rasenballsport den Untergang aller Fußballtraditionen. Andere hoffen darauf, dass die Leipziger die Langeweile um Dauermeister Bayern München beenden können. Und in Leipzig freuen sich viele, endlich wieder hochklassigen Fußball zu sehen. MZ-Autor Ullrich Kroemer präsentiert mit „Aufstieg ohne Grenzen” die erste Vereinsgeschichte: von der Gründungsphase über die sportlich wechselhaften Jahre in der Regionalliga bis zum bevorstehenden Aufstieg in die Bundesliga. Auch durch zahlreiche Interviews entsteht ein facettenreiches Vereinsporträt mit allen spannenden, darunter auch kritischen Themen rund um den Klub. Bei der MZ lesen Sie in den kommenden Tagen einige Auszüge aus dem Buch.
Wenige Tage nach dem Treffen musste Roland Gall operiert werden; am 22. November 2015 – Totensonntag – verstarb er an Leberversagen. Der kleine, untersetzte Mann mit dem akkurat gescheitelten Haar und den Koteletten vermittelte auf den ersten Blick nicht den Eindruck, am großen Sportmarketing-Rad zu drehen. Und doch beginnt die gemeinsame Geschichte vom Weltunternehmen Red Bull und dem deutschen Fußball hier in Hohenmölsen.
Seit seiner Kindheit Fan der BSG Chemie Leipzig
Von Leipzig aus gelangt man über verschlungene und holprige Straßen durch Wiesen und Felder des Burgenlandkreises in das knapp 10.000 Einwohner zählende Städtchen. Das passt ganz gut, denn auch Red Bull drängte auf teils holprigen, bisweilen verschlungenen, zumindest ungewöhnlichen Pfaden in den deutschen Bundesliga-Fußball. Die erste Initiative dazu soll von Roland Gall ausgegangen sein: Der gebürtige Thüringer war seit seiner Kindheit Fan der BSG Chemie Leipzig, dem Arbeiterklub aus dem Leipziger Westen. Auch, als der Verein nach der Wende unter FC Sachsen Leipzig firmierte, hielt Gall den Grün-Weißen die Treue. Im Sommer 2006 suchten die "Chemiker“ händeringend einen Sponsor. Am Bierstand versprach Gall, der 25 Jahre lang Mitglied des Vereins war, dem damaligen FCS-Präsidenten Rolf Heller, ihn bei der Suche zu unterstützen.
Gall, den alle nur "Sachsen-Galli“ nannten, hatte mit Sportbusiness zwar nicht viel am Hut, aber er hatte Ideen, keine Scheu und eine große Leidenschaft für den Fußball. Er holte eine Mappe mit Zeitungsartikeln, Dokumenten und Broschüren hervor – der Esstisch des kleinen Wohnzimmers mit Möbelhaus-Schrankwand, Couch und Flachbildschirm wurde nun zu seinem Büro – und erzählte davon, wie er erstmals Kontakt zu Red Bull aufnahm: Da er keinem Vollzeitjob nachging und die Kinder aus dem Haus waren, hatte der Fußballenthusiast im Sommer 2006 genügend Zeit, um über mögliche Geldgeber für den FC Sachsen nachzudenken.
Freundschaft mit "Zicos" Vater
Er erinnerte sich an seinen früheren Kumpel Roland Zickler, Vater des ehemaligen Stürmers Alexander Zickler. Dessen Weg hatte einst von Dynamo Dresden zum FC Bayern München und weiter zu Red Bull Salzburg geführt. Zudem sah Gall Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz im Fernsehen, der zu jener Zeit gerade die Formel 1 aufmischte und sich in New York und Salzburg auch im Fußball engagierte. Da der rührige Hohenmölsener weder Internetzugang noch international vernetzte Partner hatte, fuhr er zu einer Tankstelle und kaufte sich ein Döschen des teuren Energy-Getränks aus Fuschl am See. Nicht, um zu kosten, wie die Brause schmeckt, sondern: "Da steht ja die Adresse drauf“, erklärte er.
Wie einst bei der Anfrage an Beckenbauer setzte sich Roland Gall an seinen Esstisch und verfasste handschriftlich einen zehnseitigen Brief, schrieb die Adresse von der Dose ab und adressierte das Schreiben an Firmengründer Dietrich Mateschitz persönlich. Die Sponsorenanfrage Ende August ist nachweislich die erste Kontaktaufnahme zwischen Leipzig und dem milliardenschweren Limonadegiganten.
"Das ist eine Nummer zu groß für dich"
Galls Kumpels vom Chemie-Fanklub Hohenmölsen schüttelten nur ungläubig mit dem Kopf und taten die Idee des Kleinstadt-Visionärs als Hirngespinst ab. Tenor: Du bist ein rühriger Kerl, aber das ist eine Nummer zu groß für dich. Doch Gall erreichte auch diesmal mehr, als ihm viele zutrauten. Etwa zehn Tage nach seiner Anfrage an Dietrich Mateschitz bekam er eine Antwort von Red Bull. Kathrin Kalt, Assistentin der Geschäftsführung, antwortete, dass "wir uns momentan nicht bei Projekten im Rahmen des Fußballs involvieren, die über unser oben genanntes Engagement hinausgehen“. Gall war zunächst enttäuscht, ließ aber nicht locker.
Er rief in der Red-Bull-Firmenzentrale an, notierte die Durchwahl zu Mateschitz’ Büro auf dem Schreiben. Dessen Assistentin machte Gall Mut. Immerhin heiße es in dem Brief, dass sich Red Bull "momentan“ nicht für den FC Sachsen interessiere. "Bleiben Sie dran, wir behalten das im Auge“, soll Kalt gesagt haben. Eine Generalabsage klingt anders. "Momentan“ – das entscheidende Wörtchen hatte Gall zunächst übersehen. Nun unterstrich er es gleich dreimal – zweimal rot, einmal schwarz – und leitete das Schreiben an Dr. Jens Ellinger weiter, damals Geschäftsführer des FC Sachsen. Gall holte das faltige Schriftstück aus seiner Mappe hervor. "Ich will mich nicht wichtig machen, kann alles beweisen“, sagte er. Bei der Jahreshauptversammlung des FC Sachsen habe Gall Dr. Michael Kölmel, damals Geldgeber und Stadionvermieter des Klubs, mit seinem kühnen Vorschlag konfrontiert. Kölmel habe sich zwar für Galls Einsatz bei der Kontaktaufnahme zu Red Bull bedankt, soll aber laut Gall gesagt haben: "Ich glaube nicht daran.“
Natürlich gehört die menschelnde Geschichte von Roland Galls Initiative zu einer der noch spärlichen Mythen und Anekdoten in der jungen Geschichte von Rasenballsport. Mittlerweile würdigt RB die erste Kontaktaufnahme auch entsprechend. Nachdem Gall sich öffentlich beschwert hatte, wurde er 2015 zum einzigen Ehrenmitglied des Klubs ernannt und erhielt freien Zutritt zu RB-Spielen und Konzerten in der Arena. Zwar hätten Red Bull und Leipzig sicher auch ohne den Elektriker zusammengefunden; tatsächlich dürfte Galls Einfluss begrenzt gewesen sein. Doch die Rolle als ideeller Vater eines Red-Bull-Sponsorings in Leipzig durfte er für sich beanspruchen. (mz)