Mit Handicap Mit Handicap: Zwei Rollstuhlfahrer sind RB-Fans - doch nur einer fährt nach Berlin

Leipzig - Die Enttäuschung ist durch die Telefonleitung zu hören. Mike Browns Stimme klingt betrübt. „Ich bin zwar in Berlin“, sagt der 50-Jährige aus Beyernaumburg (Mansfeld-Südharz), der derzeit im Krankenhaus liegt. „Aber zum Spiel kann ich trotzdem nicht.“ Das Olympiastadion, wo am Samstagabend das Pokalfinale zwischen Rasenballsport Leipzig und Rekordsieger Bayern München stattfindet, ist zwar in greifbarer Nähe. „Aber zur Zeit trotzdem zu weit weg.“ Brown ist Anhänger des Leipziger Bundesligisten, der das erste Mal im Endspiel steht. Das zu verpassen, ist für einen Fan, wie bei der eigenen Hochzeit zu fehlen.
Doch zur Zeit ist Mike Brown, der einen amerikanischen Vater hat, zu einer medizinischen Behandlung in der Berliner Charité. „Ich habe Multiple Sklerose und bekomme gerade Infusionen“, erzählt er. Seine Krankheit, kurz MS genannt, greift das zentrale Nervensystem an. Ein Abstecher ins Stadion ist derzeit ausgeschlossen. „Da müssen die anderen ohne mich auskommen“, sagt Brown.
Die anderen, das sind die Mitglieder des Vereins „Leipzig Unified Bulls F.C.“. Dort ist Brown seit kurzem Mitglied. „Eine richtig geile Truppe“, sagt er. Die „Unified Bulls“, was übersetzt so viel wie „vereinigte Bullen“ bedeutet, bestehen zum größten Teil aus RB-Anhängern, die eine Behinderung haben. Rollstuhlfahrer wie Brown sind darunter und auch blinde Menschen, für die es im Stadion eine Live-Hörreportage gibt. Manche haben allerdings kein Handicap. Sie werden „Freunde“ genannt. Das Motto des Vereins: „Wir sind anders und doch eins“.
Anhänger mit Handicap: „Unified Bulls“ sind eine von mehreren Fangruppen
Die „Unified Bulls“ sind eine von gleich mehreren Fangruppen bei RB Leipzig, deren Mitglieder hauptsächlich Menschen mit körperlichen Einschränkungen sind. „Zu jedem Spiel kommen etwa 1000 Fans mit Behinderung“, sagt Axel Ackermann. Er ist Fanbeauftragter bei den Rasenballern. Zu seinen Spezialgebieten gehört die Inklusion. Er sorgt also dafür, dass auch Anhänger mit Handicap den Bundesligisten problemlos erleben können.
Und das, sagt Jens Pfeffer, funktioniert bei RB Leipzig richtig gut. Pfeffer ist Vereinskamerad von Mike Brown und sogar zweiter Vorsitzender der „Unified Bulls“. Auch er hat die Nervenerkrankung Multiple Sklerose und sitzt im Rollstuhl. Anders als Mike Brown jedoch wird Jens Pfeffer am Samstag nach Berlin fahren und das Finale miterleben. „Die Nervosität steigt und langsam beginnt das Kribbeln“, sagt der 40-Jährige.
Behinderten-Fantag ermöglicht Plausch mit Timo Werner
Spricht man mit Pfeffer über die Inklusionsarbeit des Bundesligisten, klingt er wie ein Trainer nach einem 6:0-Sieg seiner Mannschaft. „Was RB für Menschen mit Behinderung macht, ist schon beeindruckend“, meint der Wahl-Leipziger. Die gegnerischen Fans mit Handicap würden sie regelmäßig um die gute Betreuung beneiden.
Das gab es bei einem so großen Sportevent noch nie: Das Pokalfinale am Samstag zwischen dem FC Bayern München und RB Leipzig (20 Uhr bei ARD und Sky) soll in einem genderneutralen Stadion stattfinden.
Das berichtete am Freitag die ARD Radio Recherche-Redaktion. Demnach wird es im Olympiastadion in Berlin, dem Austragungsort des Endspiels, Unisex-Toiletten geben. Diese können Fans unabhängig von ihrem Geschlecht nutzen. Zudem kann jeder Besucher wählen, ob er sich beim Einlass von einem männlichen oder weiblichen Ordner abtasten lässt.
Wichtigster Service von RB sei dabei der Bus, der für jede Auswärtsfahrt organisiert wird. Für Rollstuhlfahrer hat der extra eine Hebevorrichtung. „Und jedes Jahr gibt es den Behinderten-Fantag, bei dem ein Training des Clubs nur für Behinderte reserviert ist“, sagt Pfeffer. Im vergangenen Jahr habe er dort mit Stürmer-Star Timo Werner geplaudert. „Der hat sich richtig viel Zeit genommen.“
Jens Pfeffer, genannt „Pfeffi“, kommt eigentlich aus Thüringen und ist „der Liebe wegen“ nach Leipzig gezogen. „Ich war Fan von Rot-Weiß Erfurt (RWE) und bin es im Herzen eigentlich noch immer“, sagt der zweifache Vater. In den 90er Jahren fuhr er oft auch zu Auswärtsspielen von RWE. „Die Derbys waren die Höhepunkte - wenn auch manchmal grenzwertige Höhepunkte“, sagt Pfeffer. In Erinnerung sei ihm das Regionalligaspiel gegen Dynamo Dresden 1997 geblieben. „Erfurt machte in der Nachspielzeit das 2:1, wir jubelten natürlich.“ Weniger erfreut zeigten sich die Dynamo-Anhänger, die den Block der Rot-Weißen stürmen wollten. „Die Polizei musste uns durch die Katakomben des Stadions nach draußen bringen“, erzählt der gebürtige Ilmenauer. Ein Erlebnis, das im Gedächtnis bleibt.
Die Verbundenheit zu RWE litt durch die Entfernung. Seine Frau hatte einen sicheren Job in Leipzig. Und bei seinem Arbeitgeber, dem Bahn-Logistikunternehmen Schenker, ergab sich die Möglichkeit, nach Sachsen zu wechseln. So wurde Leipzig Ende 2010 Pfeffers neues Zuhause. Dort besuchte er mit Kollegen die ersten RB-Spiele. Die Atmosphäre gefiel ihm, auch wenn er zu Beginn etwas skeptisch auf das Fußball-Kunstprodukt Rasenballsport geschaut habe. „Ich bin dann aber immer weiter reingerutscht und heute schon ein glühender Anhänger des Vereins“, sagt Pfeffer.
Jubel für Bayern nur auf Toilette erlaubt
Auch seine Krankheit änderte daran nichts. Im Gegenteil: Nachdem bei ihm MS diagnostiziert wurde, wurde RB Leipzig für ihn sogar noch mehr zur Fan-Heimat - was natürlich auch mit den „Unified Bulls“ zu tun hat. „Wir haben 37 Mitglieder und sind schon recht eng zusammengewachsen“, sagt Pfeffer. Gemeinsame Erlebnisse verbinden sie. Die regelmäßigen Vereinstreffen, aber auch die Auswärtsfahrten, von denen am Samstag die nächste ansteht.
Das Pokalfinale wird für Jens Pfeffer eines seiner größten Spiele als Fan - und hochkarätige Spiele hat er schon einige gesehen. 2016 war er beim Endspiel der Fußballeuropameisterschaft. Im gleichen Jahr besuchte er auch das Pokalfinale zwischen Bayern München und Borussia Dortmund, das die Süddeutschen nach einem Elfmeterkrimi gewannen. In diesem Jahr jedoch soll das Star-Ensemble aus München am Ende nicht feiern. Wobei deren Sieg zumindest Pfeffers Sohn, der den 40-Jährigen nach Berlin begleitet, freuen würde. „Er ist Bayern-Fan“, erzählt Pfeffer. „Ich habe ihm aber gesagt, dass er, wenn es für ihn etwas zu Jubeln gibt, aufs Klo gehen muss.“
Mike Brown wird sich das Finale im Fernsehen anschauen. „Das ist natürlich nicht das gleiche“, sagt er. „Aber wenn RB wenigstens gewinnt, dann ist es nur halb so schlimm.“ (mz)