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Der letzte Olympiasieger der DDR Jürgen Schult, der letzte DDR-Olympiasieger - warum er das fast nicht geworden wäre

Von Ralf Jarkowski 24.09.2020, 12:07
DDR-Diskuswerfer und Weltrekordler Jürgen Schult siegte mit einer Weite von 68,74 Metern bei der Leichtathletik-WM 1987 in Rom.
DDR-Diskuswerfer und Weltrekordler Jürgen Schult siegte mit einer Weite von 68,74 Metern bei der Leichtathletik-WM 1987 in Rom. Zentralbild

Berlin - Um ein Haar wäre die Operation Gold schief gelaufen - und Diskus-Riese Jürgen Schult würde heute nicht als letzter Olympiasieger der DDR in den Annalen des deutschen Sports stehen. Sondern der Boxer Henry Maske, als Profi nach der Wende ein smarter und schlagfertiger „Gentleman“.

Schult war an jenem Samstagmorgen in Seoul, es war der 1. Oktober 1988, wohl nicht ganz bei der Sache, am „Schlafbier“ hat es sicher nicht gelegen. Aber die DDR-Funktionäre hatten früh noch eine kleine Feier angesetzt, irgendein Jubiläum, alle mussten antreten. Dann packte der Schweriner seine Sporttasche - und ließ das Wichtigste im Zimmer liegen. Seine Identität.

„Im Olympischen Dorf auf dem Weg zum Bus ins Stadion habe ich dann gemerkt, dass ich meine Akkreditierung vergessen hatte, ohne die wäre ich nicht weit gekommen. Ich bin dann noch mal schnell zurück“, sagte Schult in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Wenn er den Fauxpas erst am Stadion gemerkt hätte - wer weiß? Gleich seine ersten Olympischen Spiele wären für den weltbesten Diskuswerfer jener Jahre wohl in die Hose gegangen.

Jürgen Schult wurde 1988 Olympiasieger in Seoul

Doch alles ging glatt. „Im Stadion habe ich dann schon beim Einwerfen gemerkt: heute passt alles“, schilderte Schult. Und mittags schlug dann die Stunde des Weltmeisters und Weltrekordlers vom SC Traktor Schwerin: Der Riese aus Mecklenburg, 28 Jahre alt, holte sich Gold. Mit vier seiner sechs Versuche wäre er Olympiasieger geworden, es war der vorletzte Wettkampftag in der Hauptstadt Südkoreas.

Was damals, gut ein Jahr vor dem Mauerfall, keiner wissen konnte: Nie wieder sollte es eine olympische Goldmedaille für die kleine Sportgroßmacht geben. Der Boxer Wolfgang Behrendt war am 1. Dezember 1956 in Melbourne, noch im gesamtdeutschen Team, der erste Olympiasieger aus der DDR - Schult knapp 32 Jahre später der letzte. Stolz präsentierten beide am 1. Dezember 2006 ihre Goldmedaillen, zum 50. Jubiläum von Behrendts Sieg im Bantamgewicht gegen den Südkoreaner Song Soon Chon.

Auf dem Nachtflug der DDR-Mannschaft nach Berlin-Schönefeld wurden die müden Medaillengewinner dann eingenordet. „Eine Stunde vor der Landung kam ein Telefax. Und da stand genau drin, in welcher Reihenfolge wir aussteigen mussten - zur Begrüßung durch die Partei- und Staatsführung. Nummer 1, 2 und so weiter, und wer hinten raus musste“, schilderte der heute 60-Jährige. „Ich war die Nummer 5. Die Nummer 1 war Martina Hellmann - warum auch immer.“ Naja: Auch Frau Hellmann hatte Diskus-Gold für die DDR erkämpft.

Jürgen Schult holt Diskus-Gold mit Olympia-Rekord

Schult gewann damals mit dem Olympia-Rekord von 68,82 Metern - das konnte der wortkarge Schweriner weder 1992 noch 1996 oder 2000 in Sydney wiederholen. Historisch oder politisch überhöhen möchte er seinen Triumph keinesfalls. „Ich war schon stolz darauf, das DDR-Trikot zu tragen. Aber das Gold habe ich für mein Team geholt: für den Kraftfahrer, der mich am Montagmorgen nach Kienbaum gefahren hat. Für die Küchenfrau, die mir morgens um halb fünf mein Steak gebraten hat - mit Spiegelei“, erzählte Schult. „Für meine Familie, meine Freunde. Wenn die sich freuen, dann bin ich glücklich - und nicht, weil da 'ne Fahne hoch geht.“

DDR-Prämie für den Olympiasieg: Ostmark, Forumschecks und Orden

Für Gold gab's damals auch viel Silber: Schult bekam den „Vaterländischen Verdienstorden“, wurde „Verdienter Meister des Sports“. Es gab 35.000 Ostmark und 6.000 West - in Forum-Schecks. Er kaufte sich davon ein Auto, auf das ein normaler DDR-Bürger jahrelang und oft vergeblich gewartet hätte. „Einen Lada 2107. Den habe ich im September 1989 noch bekommen und in Berlin abgeholt“, erzählte er. „1991 oder 1992 habe ich ihn für 3000 Westmark wieder verkauft.“

Richtiges Silber gab's dann 1992 in Barcelona noch mal, 1996 in Atlanta (Sechster) und 2000 in Sydney (Achter) schaffte er es nicht mehr aufs Podium. Sechsmal nahm Schult an Weltmeisterschaften teil, achtmal in Serie (1983 bis 1990) wurde der gelernte Maschinen- und Anlagenmonteur DDR-Meister. Am 6. Juni 1986 schleuderte der Diplomsportlehrer die Zwei-Kilo-Scheibe in Neubrandenburg bei günstigem Wind 74,08 Meter weit: Weltrekord - bis heute.

Dass Dopinggerüchte nur bei Weiten jenseits der 70 Meter aufkommen, nervt Schult bis heute. „Der Weltrekord hat mir nie viel bedeutet. Für andere war er Mittel zum Zweck - zu welchem Zweck auch immer“, meinte Schult. „Ich habe mich immer gefragt, warum im Diskuswurf nur Weiten über 74 Meter so exklusiv unter Dopingverdacht stehen.“ Immerhin sind derzeit 26 Diskuswerfer im 70-Meter-Club; der Litauer Virgilijus Alekna kam Schult im Jahr 2000 am nächsten (73,88).

Unter Tränen: Jürgen Schult warf 2001 seinen letzten Wettkampf-Diskus

Nach 26 Jahren Leistungssport war 2001 beim Berliner Istaf Schluss. „Als der Stadionsprecher meinen sechsten Versuch ankündigte - ich hätte heulen können. Ich glaube, ich habe sogar geheult“, gab Schult zu. „Wenn 50.000 oder 60.000 Zuschauer im Olympiastadion plötzlich aufstehen und klatschen und alles andere angehalten wird im Stadion, weil du deinen letzten Wettkampfwurf nach 26 Jahren machst - das sind so Momente im Leben, die man einfach nicht vergisst“, sagte Schult und schwor: „Das war 30-mal emotionaler als bei meinem Olympiasieg!“

Jürgen Schult gewann die 203. und letzte Olympia-Goldmedaille für die DDR

Von 2001 bis 2016 war Schult DLV-Bundestrainer der Diskus-Männer, von 2004 bis 2018 leitender Bundestrainer Wurf. Seit März 2018 arbeitet er als Bundespolizei-Trainer Leichtathletik in Kienbaum.

Das 203. Olympia-Gold in der kurzen Geschichte des DDR-Sports kann Schult keiner mehr nehmen. Aber er behandelt das edle Stück deshalb nicht wie ein Heiligtum, wie eine Ikone. „Alle meine Medaillen, auch die Goldene von Olympia, liegen bei mir im Büro in einer Schublade“, beteuerte der Hüne und verriet dann, was ihm heilig ist: „Ich brauche keinen Riesen-Kosmos im Leben. Ich brauche die Menschen, die Freunde im Leben, die für mich da sind, denen ich vertrauen kann.“ (dpa)