Henning Harnisch im Interview Henning Harnisch im Interview: "Die deutschen Nationalspieler sind so gut wie noch nie"

Leipzig/Weißenfels - Henning Harnisch sucht den Schatten an diesem sonnigen Samstagnachmittag. Der 51-Jährige sitzt auf einer Bank vor der Arena Leipzig, als ein Junge mit seiner Mutter vorbeiläuft. Das Kind trägt ein Trikot der kinder+sport Basketball Academy, die vor dem Spiel des Mitteldeutschen Basketball Clubs (MBC) am Abend gegen Alba Berlin in der Arena stattfindet. „Glückwunsch“, ruft Harnisch, Botschafter des Nachwuchsprojektes, dem Jungen zu. „Vielen Dank“, antwortet die Mutter.
Henning Harnisch ist 1993 mit Deutschland überraschend Europameister geworden. Er war als Profi ein Aushängeschild des deutschen Basketballs – und ist nun bereits seit vielen Jahren eines der prägenden Gesichter des deutschen Nachwuchsbasketballs. Zudem ist Harnisch als Vizepräsident von Alba Berlin tätig. Daniel George hat sich mit ihm unterhalten.
Herr Harnisch, wissen die Kinder eigentlich, dass ein Europameister vor Ihnen steht?
Harnisch: (lacht) Das muss man den Kindern erstmal vermitteln. Wenn ein Niels Giffey von Alba Berlin oder Profis des MBC mitmachen, hilft das natürlich auch. Das sind heutzutage die Vorbilder.
Worum geht es bei der kinder+Sport Basketball Academy?
Harnisch: Im Grunde geht es um die Frage: Wie kriegt man Kinder ins Spielen? Das funktioniert bei uns über ein Level-System. Basketball lässt sich ja so herrlich gut kategorisieren: dribbeln, passen, werfen. Es gibt insgesamt sechs Level – vom weißen bis zum schwarzen Trikot. Die Kinder absolvieren verschiedene Übungen und verdienen sich so ihre Trikots. Das macht Spaß und sorgt für einen spielerischen Einstieg in den Sport.
Welche Rolle spielen Sie dabei?
Harnisch: Ich bin offizieller Botschafter und habe das Projekt mit Alba Berlin mit aufgebaut. Einfach, weil mich dieses Thema schon immer interessiert hat. Das ist einfach ein super Aufhänger, über die Strukturentwicklung in einer Region nachzudenken.
Lassen Sie uns zunächst über ihren Verein sprechen: Wie sehr schmerzt die Finalniederlage von Alba Berlin im Eurocup noch?
Harnisch: Ich bin eher stolz. Denn erstmal waren alle total glücklich, dass wir so eine tolle Eurocup-Saison gespielt haben. Das vergisst man natürlich schnell, wenn das letzte Spiel dann so ausgeht, da wirkt dann alles andere erstmal entwertet. Aber was das Team, was die Trainer, was alle gemeinsam auf die Beine gestellt haben, war toll. Vor allem der Heimsieg in der Finalserie war für die Stadt und für die Fans super. Ich mag die Mannschaft, ich mag, wie sie spielt und ich mag ihren Charakter. Und noch stört es mich da auch nicht, dass wir nicht immer Erster werden (lacht).
In einem Interview mit der „Zeit“ haben Sie im vergangenen Jahr das Schulsportsystem kritisiert. Was ist seitdem bereits besser geworden und was muss noch besser werden?
Harnisch: Es wäre ja super, wenn ich mal ein Interview gebe, und dann wird alles besser (lacht). Nein, so ist das nicht. Aber immer mehr Leute sind sensibilisiert dafür, dass die strikte Trennung von Schulsport und Vereinssport nicht mehr zeitgemäß ist.
Gehen ihre Vorstellungen also in Richtung des US-amerikanischen Schulsportmodells?
Harnisch: Das US-Modell hat gewisse Probleme. Zum einen gibt es keinen Vereinssport. Und 170 Tage im Jahr ist keine Schule, das kann bei uns über die Vereine abgefangen werden. Dort nicht. Außerdem ist der Sportunterricht dort an sich auf einem schlechten Niveau. Aber natürlich gibt es eine große Schulsport-Tradition – und da können wir uns etwas abschauen.
Ich war vor Kurzem zum Beispiel auch in Neuseeland und habe mir sagen lassen, dass dort bei Schul-Rugby-Spielen bis zu 8.000 Leute zuschauen. Das ist dann ein richtiges Ereignis, das wir so in den nächsten fünf Jahren in Deutschland nicht werden herstellen können. Aber wir können uns schon fragen, wie wir so einen Zusammenhalt, so einen Geist entwickeln, dass eine Schul-Sportveranstaltung so ein Highlight ist wie eine Theateraufführungen oder ein Orchesterauftritt.
Was wünschen Sie sich?
Harnisch: Es gibt hier in Leipzig ein gutes Beispiel: Hier hilft ein Sportlehrer aus der Region in seiner Freizeit, in den Osterferien bei der Academy, weil er Basketballer ist, ihm das Spaß macht und weil er weiß, dass ihm und seinen Schülern diese Vernetzung in Zukunft nützen kann. Wir müssen mehr dafür sorgen, dass Sportlehrer, die Begeisterung für Sport herstellen, im Kollegium anerkannt werden. Auch die Schulleiter müssen wissen, wie wichtig es ist, dass Kinder früh an Sport herangeführt werden.
Ist das Image der Sportlehrer zu schlecht?
Harnisch: Ich würde das eher positiv sehen und sagen: Gute und anerkannte Sportlehrer können richtig viel bewirken. Wache Köpfe, die auch einen Blick für die Vereine in der Umgebung haben und so Kooperationen anstreben können. Dafür muss bei den Schulleitungen ein noch größeres Verständnis geschaffen werden.
Wo steht der deutsche Nachwuchsbasketball aktuell?
Harnisch: Er wächst. Wir haben immer bessere Argumente. Aber wir müssen immer noch darum kämpfen, Spielsportart Nummer zwei zu sein nach dem Fußball.
Welche Rolle spielt die Herren-Nationalmannschaft dabei?
Harnisch: Vor 15 Jahren habe ich noch gedacht, dass die Nationalmannschaft in Zukunft gar nicht mehr so wichtig sein wird, weil alles sowieso internationaler wird, weil die Spieler überall in der Welt spielen. Aber da habe ich mich geirrt.
Inwiefern haben Sie sich geirrt?
Harnisch: Die Nationalmannschaft hat weiterhin einen extrem hohen Wert für die Entwicklung des Basketballs in Deutschland. Und wir waren noch nie in einer so guten Lage wie derzeit, was die Qualität der einzelnen Nationalspieler betrifft, die ist überragend. Aber mehr Leute müssen verstehen, dass das auch eine Folge von nationaler Strukturarbeit ist, zum Beispiel der Gründung der Jugend- und Nachwuchs-Basketball-Bundesliga oder dass hauptamtliche Nachwuchstrainer eingestellt wurden. Dass alles hat dazu geführt, dass die Jahrgänge von 1990 bis 2000 auch in der Breite und vor allem in der Spitze ein sehr spannendes, sehr hohes Niveau haben.
Was kann die deutsche Nationalmannschaft bei der WM in diesem Jahr erreichen?
Harnisch: Keine Ahnung, wie weit die Jungs am Ende kommen. Aber wir haben zum ersten Mal mehr als eine Handvoll Spieler in der NBA. Die große Kunst wird es sein, einen Teamgeist herzustellen, dass wirklich jeder unbedingt spielen will und für den anderen kämpft. Da haben wir mit Henrik Rödl den richtigen Trainer dafür, um diese Einstellung zu etablieren. Ich finde jedenfalls, dass wir eine Top-Acht-Mannschaft in der Welt haben. Auf dieser positiven Entwicklung dürfen wir uns aber nicht ausruhen.
Woran denken Sie da?
Harnisch: Mit regelmäßigen Analysen müssen wir weiterhin klarmachen, wo wir uns weiterentwickeln können, dass es in zehn Jahren noch besser um den deutschen Basketball bestellt ist als jetzt. Nur weil man irgendwann mal eine Nachwuchs-Basketball-Bundesliga gegründet hat, ist sie nicht zeitlos. Und nur, weil man eine gewisse Anzahl hauptamtlicher Nachwuchstrainer eingeführt hat, heißt das nicht, dass das ausreicht. Ein Profiteam braucht beispielsweise zwingend jemanden im Verein, der den Klub sportlich leitet und eher aus dem Trainerbereich kommt als aus dem Jurastudium.
Welche Rolle spielen dabei die Verbände?
Harnisch: Auf bundesweiter Ebene muss auch der Deutsche Basketball-Bund (DBB) mal eine Erzählung anbieten und zum Beispiel sagen: ‚Unser Ziel ist es, in den nächsten fünf Jahren 500.000 Mitglieder zu haben‘. Dafür müssen dann auch klare Maßnahmen angeboten werden. Oder auch die Frage, wie wir den Frauen- und Mädchenbasketball pushen. Es gibt da zahlreiche Ansatzpunkte.
In den einzelnen Ländern geht es immer darum, dass es eine Linie gibt zwischen den Landesverbänden und den Profi-Klubs. Also zum Beispiel, dass der MBC und der Basketballverband Sachsen-Anhalt auf einer Linie liegen. Da ist Sachsen-Anhalt auf einem sehr guten Weg. Der Verband ist fit, hat zum Beispiel die Grundschulligen in Sachsen-Anhalt vorangetrieben. Und es gibt die Idee des Miteinanders, was sehr wichtig ist.
Welche Aufgaben sehen Sie bei den Vereinen?
Harnisch: Wichtig ist, dass die Vereine auch im Radius etwas größer denken wie jetzt zum Beispiel der MBC mit dem Gastspiel in Leipzig. Das ist für mich sowieso ein Traum-Standort für einen Bundesliga-Klub, obwohl es ja auch gute Gründe gibt, warum der MBC weiterhin in Weißenfels spielt. Aber ähnlich verhält es sich zum Beispiel mit Potsdam. Das ist auch so ein Ort, der eigentlich perfekt geeignet wäre, so eine typische Basketball-Größe hat, mit der Universität etwas akademisches, auch etwas bürgerliches, das ist immer ein guter Nährboden für Basketball.
Auch hier in der Gegend um Halle, Weißenfels, Leipzig, weiter unten dann auch Erfurt, Jena, Dresden oder Chemnitz passieren viele interessante Sachen im Nachwuchsbereich – in der Summe sogar mehr als im Westen.
Warum ist das Ihrer Meinung nach so?
Harnisch: Manchmal erschlagen einen die Traditionen und machen es schwieriger, wichtige Zukunftsschritte zu gehen. Da gibt es zahlreiche Beispiele im Westen. Manche Klubs haben es nach vielen Rückschlägen wieder zurückgeschafft wie Göttingen oder Gießen. Aber viele Traditionsstandorte, die für sehr guten Jugendbasketball standen, spielen mittlerweile eine immer kleinere Rolle. Da ist es für den Osten auch von Vorteil, dass er nicht so zugestellt ist mit Traditionen.
Welchen Stellenwert sollte Jugendarbeit für die Klubs haben?
Harnisch: Es geht darum, zu verstehen, wie wichtig diese Nachwuchsarbeit auch in den Schulen ist. Aber immer mehr Verantwortliche im Profisport erkennen, dass ein Engagement dort Vorteile bringt. Das bringt die nächste Runde Zuschauer, diese Leute werden später auch mal ein Trikot kaufen und es gibt auch örtliche Unternehmen, die lieber ein sozialinhaltliches Projekt fördern oder eben beides, die Bande im Profisport und die Jugendarbeit. Und wenn sich Bundesligisten oder Zweitligisten nicht dafür einsetzen, wer denn sonst?
Sie setzen sich dafür ein. Und das ist anscheinend eine Lebensaufgabe.
Harnisch: Ja, das kann man so sagen. Wenn ein Kind mit einem Trikot der Academy an mir vorbeiläuft und vor Stolz strahlt, dann macht mich das glücklich. (mz)