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EM 1972 Momente der deutschen EM-Geschichte: Wembely 1972

Von Stephan Klemm 12.05.2016, 14:12

Köln - Die Spieler stehen sich gegenüber, sehen sich an, stellen sich - anders als heute - parallel zur Mittellinie auf, am Rand des Rasens von Wembley, die Hymnen laufen. Fast 100.000 Zuschauer sind diesmal gekommen, darunter 12 000 Fans aus Deutschland. Kurz darauf geht es los, es ist 19.45 Uhr in London, Anpfiff. Die deutschen Fernsehzuschauer, 22 Millionen Menschen schauen am 29. April 1972 im ZDF zu, sehen das alles zwar. Aber sie hören nur den Stadionsound, nicht den Reporter Werner Schneider. "Tonstörung" ist unten auf dem Bildschirm zu lesen. Etwas mehr als zwei Minuten sind gespielt, als Schneider erstmals zu hören ist. Er sagt: "Und Wimmer".

Deutschland also im Ballbesitz in England, im Wembley-Stadion, Viertelfinale der Europameisterschaft 1972, Hinspiel an einem Samstagabend. Rutschiger, nasser Boden. Günter Netzer verspringt der Ball nach 20 Sekunden. In der zweiten Minute eröffnet Kapitän Franz Beckenbauer mit einem Fehlpass 20 Chaos-Sekunden im deutschen Strafraum, ehe Torhüter Sepp Maier den Ball hält.

Grandioser Erfolg der Technik

So profan also beginnt das Spiel von Wembley, das später zu einer Sternstunde des deutschen Fußballs verklärt wird, zu einem ganz großen Moment der deutschen EM-Geschichte. Mythisch umrankt als grandioser Erfolg der Technik, des erhabenen, eleganten, ästhetischen Spiels der Deutschen über das zwar stürmische, aber letztlich erfolglose englische Spiel. Deutschland gewinnt 3:1, siegt erstmals in England, eine Art Fußball-Festungssturm, der gewiss auch zur besonderen Verklärung dieser Partie beigetragen hat.

1972 wird erst zum vierten Mal ein Europameister gesucht. Nach einer Qualifikation bleiben acht Nationen übrig, die sich im Viertelfinale in Hin- und Rückspielen in den entsprechenden Ländern duellieren. Erst danach gibt es eine Endrunde mit vier Teams, zwei Halbfinals, dem Match um Platz drei und dem Endspiel. Die deutsche Elf schafft den Sprung ins Turnier nach Belgien - das Rückspiel gegen England in Berlin, 14 Tage nach Wembley, endet 0:0. In Belgien wiederum triumphiert die DFB-Elf, gewinnt das Finale mit 3:0 gegen die Sowjetunion und ist zum ersten Mal Europameister.

Das grüne deutsche Trikot mit der weißen Nummer zehn trägt in Wembley Günter Netzer, Regisseur aus Mönchengladbach, damals 27 Jahre alt. Und er macht eines seiner besten Spiele. Holt sich den Ball am eigenen Strafraum, jagt damit durchs Mittelfeld, spielt kluge Pässe, ist immer anspielbar und hat ganz oft die richtige Idee. Wenn man Günter Netzer heute auf all das anspricht, erzählt er auch 44 Jahre später voller Euphorie über das Erlebnis Wembley, sein Spiel. Und ihm fällt im Gespräch mit dem "Kölner Stadt-Anzeiger" ein: "Die Leistung", er meint seine eigene, "war eine völlig außergewöhnliche".

Extralob für Netzer

Helmut Schön würdigt Netzers Wembley-Auftritt später sogar mit dem schwärmerischen Ton eines Fußball-Romantikers. In seinen Memoiren schreibt der Bundestrainer: "Ich werde es mein Leben lang nicht vergessen, dieses Bild: Wie er unter dem Flutlicht mit wehendem, langem blonden Haar durch das Mittelfeld stürmte, den Ball am Fuß - das war einfach ein herrlicher Anblick." Dieses Kompliment freut Netzer heute noch sehr: "Absolut großartig". Und ja, "es war mein bestes Länderspiel". Das beste seiner 37.

Und das mit den wehenden Haaren - das war auch für Netzer selbst "spektakulär", seine Vorstöße "über das halbe Feld". 18 Monate später hat Karl Heinz Bohrer, ein Feuilleton-Autor der "FAZ", diese Art des Spiels in elf Worte gekleidet: "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte »thrill«." Und weiter: "»Thrill«, das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver, das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, »thrill«, das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. »Thrill« ist Wembley." Netzer. Wembley. Thrill. Ein Dreisatz für die Nachwelt.

Im Spiel selbst waren letztlich die äußeren Umstände bestens, sagt Netzer: "Ein ganz besonderer Rasen. Wie ein Billardtisch. Wer darauf nicht Fußballspielen konnte, der hat es nirgendwo gekonnt. Da lief der Ball von alleine. Ein Festtag für Techniker." Aus all dem habe sich "eine Lust am Spiel entwickelt", geleitet von "höchstem technischen Können" und "professioneller Einstellung".

Vor dem Spiel jedoch überwiegt die Skepsis. Es gibt Ausfälle. Wolfgang Overath liegt nach einer Leisten-Operation in der Kölner Uni-Klinik. Berti Vogts aus Mönchengladbach ist am Meniskus verletzt. Overaths Kölner Kollegen Hennes Löhr und Wolfgang Weber können auch nicht mitspielen. Es fehlten zudem die Schalker Klaus Fichtel und Reinhard Libuda - für Länderspiele gesperrt wegen ihrer Verstrickung in den Bundesliga-Skandal. Torhüter Sepp Maier (Bayern München) spielt trotz einer Schleimbeutelentzündung mit einem angeschwollenen Ellbogen, der in einen gepolsterten Verband gehüllt ist. Die medizinische Abteilung hält das geheim, Schön weiß nichts davon.

Sechs Bayern-Spieler in der Startelf

Der Bundestrainer setzt auf den Offenbacher Sigfried Held (29) aus der Regionalliga (damals der Bundesliga-Unterbau). Es spielen auch die Münchner Fast-Novizen Uli Hoeneß (20 Jahre, zweites Länderspiel), Paul Breitner (20 Jahre, viertes Länderspiel) und Hans-Georg Schwarzenbeck (24 Jahre, neuntes Länderspiel). Hinzu kommt noch eine Ergebnis-Krise der Bayern-Spieler, von denen sechs - Maier, Beckenbauer, Breitner, Schwarzenbeck, Hoeneß und Gerd Müller - in der Startelf von Wembley stehen. Zwischen dem 12. und 22. April 1972 verlieren die Münchner drei von vier Spielen - 1:5 im Pokal beim 1. FC Köln, 0:2 im Halbfinal-Rückspiel des Europapokals der Pokalsieger bei den Glasgow Rangers (sie schieden aus) und mit 0:3 in der Bundesliga in Duisburg.

In einer "grausamen Verfassung" seien die Bayern gewesen, erinnert sich Netzer, es habe eine "gedrückte Stimmung" geherrscht: "Es gab nicht die besten Voraussetzungen für dieses Spiel." Netzer spürt, dass es eng werden könnte in Wembley. In der Kabine sitzt Beckenbauer (damals 26) neben ihm: "Ich habe ihm auf den Oberschenkel geklopft, kurz bevor wir rausgegangen sind, und gesagt: »Wenn wir heute weniger als fünf Stück kriegen, haben wir ein erstklassiges Resultat erreicht«". Beckenbauer "hat mich nur angeschaut und sich seinen Teil gedacht. Es war näher an der Zustimmung als an der Ablehnung."

Und trotzdem findet die deutsche Mannschaft nach den Fehlpass-Turbulenzen zu Beginn bald schon hervorragend ins Spiel. Netzers Ballsprints sind das eine, schnelle und sichere Kombinationen das andere - zum Beispiel vor dem 1:0 durch Uli Hoeneß (26.). Gerd Müller schirmt den Ball ab, spielt ihn im Strafraum zu Held, der legt ab auf Hoeneß, Schuss aus 16 Metern. Tor.

Zu sehen ist in dieser Partie auch ein Positions-Wechselspiel von Netzer und Beckenbauer. Netzer erklärt: "Franz rückte nach vorne in die Offensive, ich ließ mich fallen." Und umgekehrt. Das sei einfach "eine kleine Variante" gewesen, "worauf der Gegner sich nicht so gut eingestellt hat". Helmut Schön haben die beiden gar nicht eingeweiht - "er hat das hingenommen", sagt Netzer.

Doch so glorreich wie es später immer wieder stilisiert wird, verläuft das Spiel nicht nur aus deutscher Sicht. Zwischen der zehnten und 45. Minute hat die deutsche Elf das Spiel im Griff. In der zweiten Hälfte jedoch nicht immer - England kommt auf. Emlyn Hughes triff die Latte (62.), die Gastgeber haben am Ende häufiger aufs Tor geschossen (25:13) und mehr Ecken gesammelt (14:4). Und als Francis Lee in der 78. Minute das 1:1 gelingt, sagt ZDF-Reporter Schneider: "Sicherlich nicht unverdient, dieses Tor der Engländer."

Doch die Deutschen kommen trotz des Rückschlags, trotz der englischen Drangphase, zurück. Netzers schlichte Erklärung: "Na, wir hatten Selbstvertrauen. Dann haben wir es einfach zu Ende gespielt." Dabei hilft den Deutschen zunächst ein Elfmeter.

Bei einem Konter grätscht Englands Kapitän Bobby Moore den deutschen Linksaußen Held im Strafraum ab. Klare Sache. Müller, als erster Schütze vor Netzer eingeplant, sagt dem "Kicker" nach dem Spiel: "Ich hatte keinen Mut." Er habe Netzer signalisiert, dass er kommen und schießen solle. Netzer nimmt sich den Ball, geht am Elfmeterpunkt in die Hocke, legt sich den Ball zurecht, scheitelt seine Haare, nimmt Anlauf - und trifft in die von ihm aus gesehen linke Ecke. Englands Torhüter Gordon Banks hat den Ball berührt und an den Pfosten gelenkt, von wo er über die Linie rollt. 2:1, 84. Minute. Es folgen zwei wilde Hopser von Netzer. "Mein lieber Mann, es war so was von knapp. Deswegen auch diese extremen Freudensprünge. Das war natürlich äußerstes Glück", sagt Netzer.

Ein Tor fällt noch, Müller trifft mit einem Schuss aus 15 Metern sehenswert und typisch für ihn aus der Drehung, 3:1, 88. Minute. Die Entscheidung, alles klar. Abpfiff. Sieg mit ganz großem Nachhall.

Helmut Schön findet, das alles sei "die beste Leistung einer deutschen Nationalmannschaft überhaupt" gewesen. Die französische Sportzeitung "Équipe" schwärmt über "Traumfußball aus dem Jahr 2000". Und die "Gazzetta dello Sport" aus Italien staunt über "Bilderbuchfußball, der die Engländer schockierte". Feuilletonist Helmut Böttiger schreibt noch in den 1990er Jahren eine Eloge: "Es war der glänzendste Sieg einer deutschen Nationalmannschaft. Die Welt rieb sich die Augen und erkannte bei den Deutschen die Möglichkeit der Kunst, der Eleganz, der Phantasie." Und Günter Netzer sagt: "In Wembley waren wir der Perfektion sehr nahe."

Das gilt letztlich auch für das anschließende EM-Kurzturnier, das im Übrigen zwischen Bundesliga-Spieltag 32 und 33 ausgerichtet wird. Deutschland bezwingt im Halbfinale Gastgeber Belgien mit 2:1. Und im Endspiel vier Tage später, am 18. Juni 1972, glänzend dirigiert von Netzer, überforderte Sowjets in Brüssel mit 3:0.

Für Netzer ist der Titelgewinn die Erfüllung einer Fußball-Mission. Dieses "technisch schöne, hoch anspruchsvolle Spiel" müsse man eben auch "erfolgreich gestalten. Ohne einen Titel wäre das nicht vollkommen gewesen. Das alles zusammen, Spektakel, Tore und Siege, das ist mein Kriterium von perfektem Fußball."

Die Deutschen werden zwei Jahre später auch noch Weltmeister im eigenen Land - im Finale spielen viele Helden von Wembley, die sechs Bayern-Stars etwa, Netzer aber nicht. Seine große Nationalelf-Zeit war schon vorbei. Doch er sagt im Rückblick auf seine Karriere: "Ein Europatitel auf Nationalmannschaftsbasis, das ist für mich natürlich das Beste, das Höchste gewesen." Die Grundlage dafür haben er und die deutsche Elf in der Sternstunden-Nacht von Wembley gelegt.