EURO 1980 Momente der deutschen EM-Geschichte: DFB-Team setzt sich gegen Belgien 1980 durch

Köln - Europameisterschaft 1980 in Italien, das Quartier der deutschen Delegation liegt in der Via Aurelia Antica in Rom, und Horst Hrubesch ist begeistert über die Möglichkeiten, die sich auch neben dem Fußballplatz eröffnen. Also besichtigt der Stürmer des Hamburger SV vor dem dritten Gruppenspiel gegen Griechenland den Petersdom. "Wenn du in Rom bist und Zeit hast, schaust du dir dieses beeindruckende Gebäude an. Jeder hat davon geschwärmt, und ich war neugierig", sagt Hrubesch, damals 29 Jahre alt. Zufällig hält Papst Johannes Paul II. gerade eine Messe, zur Segnung der Gläubigen hebt er zwei Finger - und schon ist ein Zeichen in der Welt. Die Geste sieht ein Journalist, der Hrubesch begleitet, und er sagt: "Schau mal Horst, der Papst guckt dich an, er will dir sagen, du machst zwei Tore im nächsten Spiel." Doch gegen Griechenland trifft niemand, das Spiel endet 0:0. In der Partie danach allerdings fallen zwei Tore für Deutschland, beide erzielt tatsächlich Horst Hrubesch. Es ist das Finale, die DFB-Elf gewinnt im römischen Olympiastadion - nicht allzu weit vom Petersplatz entfernt - mit 2:1 gegen Belgien. Sie wird zum zweiten Mal Europameister.
Und Johannes Paul II. hat nun offenbar doch alles schon vorher gewusst. Zumindest ruft das der Journalist vor der Pokalübergabe dem neuen EM-Helden Hrubesch zu: "Der Papst hat Wort gehalten. Er hat gemeint, du schießt die Tore im Finale, nicht gegen Griechenland." Heute noch erinnert sich Hrubesch - inzwischen Trainer der deutschen Olympia-Auswahl - gern an diese Anekdote. Im Gespräch mit dem "Kölner Stadt-Anzeiger" sagt er: "Das ist eine schöne Geschichte. Der Papst hat damals tatsächlich nur die beiden Finger hochgehalten, nicht die ganze Hand." Deutschland also holt den Titel.
Später Einstieg von Hrubesch ins DFB-Team
Hrubesch hat es am 22. Juni 1980 in einer lauen Frühsommernacht in der italienischen Hauptstadt möglich gemacht. Er profitiert vom Verletzungspech des gesetzten Schalkers Klaus Fischer, der sich im März 1980 das rechte Schien- und Wadenbein gebrochen hat und für Italien ausfällt. Spätstarter Hrubesch wird erst im Mai zum Fischer-Vertreter erkoren. Und im Juni ist er der deutsche EM-Star.
Mit der deutschen Elf gewinnt die beste Auswahl des Turniers, an dem erstmals acht Mannschaften teilnehmen, die in zwei ViererGruppen eingeteilt werden. Der italienische "Corriere della Sera" stellt fest, dass "eine großartige deutsche Mannschaft" den Titel erobert habe. Es war das 19. Länderspiel unter der Regie von Bundestrainer Jupp Derwall, bisher hat er keine Niederlage hinnehmen müssen. Die Bilanz der italienischen Tage liest sich wie ein Triumph: Torhüter Harald Schumacher (26) gilt als bester Keeper des Turniers. Sein 20-jähriger Kölner Teamkollege Bernd Schuster nach grandioser Leistung in nur zwei Partien bei dieser EM als bester Feldspieler. Klaus Allofs (23, Fortuna Düsseldorf) reist mit drei Treffern als Torschützenkönig heim - und Karl-Heinz Rummenigge (24, Bayern München) wird offiziell zum besten Akteur der Veranstaltung und später zu Europas "Fußballer des Jahres" gekürt.
Derwalls Team ist jung (24,38 Jahre im Schnitt), unerfahren (11,5 Länderspiele pro Spieler vor dem Turnier), aber es besitzt viel Talent und "spielerische Qualität", wie Hrubesch sagt und erweist sich als richtige Mischung. Und noch etwas zeichnet diese Mannschaft aus: Zusammenhalt, Harmonie, Verständnis füreinander, keine strenge Hierarchie, keine Bildung von Gruppen, die gegeneinander arbeiten. Hans-Peter Briegel (damals 24) sagt: "Wir waren eine echte Einheit." Hansi Müller (22) erinnert sich, dass jeder bereit war, "sein Ego zurückzustellen". Kapitän Bernard Dietz, mit 32 Jahren der Senior des Teams, findet: "Da ist eine tolle Mannschaft zusammengewachsen."
Derwall, der Feldherr
Unterstützt hat die Gruppe gewiss auch die leutselige, offene, unkomplizierte und eben nicht feldherrenstrenge Menschenführung des Rheinländers Derwall. "Wir haben auch schon mal mit ihm »Hoch auf dem gelben Wagen« gesungen. Der Jupp hat dabei die Gitarre gespielt. Das hält eine Mannschaft zusammen. Wenn du dich wohlfühlst, ist eben vieles möglich", sagt Hrubesch.
Der Start ins Turnier gelingt, in Rom gewinnt Deutschland in einer Neuauflage des EM-Finales von 1976 mit 1:0 gegen die Tschechoslowakei. Das Tor erzielt Rummenigge. Nach dem 3:2 gegen Holland (nach 3:0 Führung, Allofs erzielt alle drei Treffer) ist der Weg ins Finale vorgezeichnet. Und als die CSSR und Holland noch vor der letzten deutschen Vorrundenpartie gegen Griechenland unentschieden spielen, steht die DFB-Elf als Gruppensieger und Finalist fest. Denn bei dem Turnier in Italien wurden die Halbfinals ausgespart - die besten Teams der beiden Vierer-Gruppen sollten das Endspiel bestreiten. Die Zweitbesten die Partie um Rang drei. Ein Modus-Unfall, der vier Jahre später in Frankreich korrigiert wird: Dort gibt es ein Halbfinale, aber keine Partie um Bronze.
DFB-Elf geht es Favorit ins Finale
Derwall schont gegen die Griechen die mit gelben Karten belasteten Spieler Allofs, Schuster und Dietz. Es geht ja um nichts mehr. Hinterher ist im "Kicker" zu lesen: "Das 0:0 geht sogar den Chancen nach in Ordnung."
In der anderen Gruppe setzt sich Belgien durch. Das Team ist seit zehn Spielen ungeschlagen, und verwirrt seine Gegner mit einer in Perfektion antrainierten Abseitsfalle. Die entscheidende Tat ist ein 0:0 im letzten Vorrundenspiel gegen Gastgeber Italien. Danach aber schimpft der italienische Trainer Enzo Bearzot: "Diese Belgier haben es nicht verdient, um die Europameisterschaft zu spielen." Er wirft ihnen "Menschenjagd" und "schmutziges Spiel" vor. Belgiens Coach Guy Thys freut sich über seinen Coup: "Wir haben die Italiener mit italienischen Mitteln besiegt: Zeit schinden, Spielrhythmus zerstören, mit Händen und Füßen kloppen und auch das Spucken nicht vergessen."
Deutschland geht als Favorit in das Finale im Olympiastadion von Rom, das immerhin mit knapp 48.000 Zuschauern zu gut zwei Dritteln gefüllt ist. Keine Selbstverständlichkeit bei einem Turnier mit enttäuschenden Besucherzahlen (die 14 Begegnungen der EM-Endrunde sehen im Schnitt nur 24 051 Menschen). Eine Polizeieskorte leitet die deutsche Delegation am Petersdom vorbei ins Stadio Olimpico. Doch vor dem Spiel ist nicht sicher, ob Hrubesch die Papst-Botschaft noch in Italien umsetzen kann. Gegen Griechenland spielt er schlecht, Derwall zweifelt, ob er ihn gegen Belgien in die Startelf stellen soll. Der Stürmer sucht das Gespräch mit dem Trainer. "Da hat mir Jupp Derwall mitgeteilt, dass er dazu tendieren würde, mich zunächst draußen zu lassen. Ich sagte zu ihm: »Trainer, Ihre Entscheidung. Aber ich werde alles geben. Alles.«" Damit hat er offenbar eine Wirkung erzielt, denn Derwall entscheidet sich doch für Hrubesch. Und damit für den Schlüssel zum Erfolg.
Das Finale ist erst das fünfte Länderspiel für Hrubesch, noch ist sein Nationalmannschafts-Torkonto leer. Doch nach neun Minuten und 38 Sekunden trifft der Spätberufene - mit dem rechten Fuß und einem strammen Schuss aus 17 Metern nach feiner Vorarbeit von Schuster, der zuvor mit Allofs Doppelpass spielte.
Standardsituationen wurden geübt
Derwall hat mit seiner Mannschaft vor dem Spiel Standardsituationen trainiert, aber vor allem Strategien gegen die Abseitsfalle: Fernschüsse, Dribblings, Doppelpässe mit Hrubesch als Anspielstation. Die Anspielstation hat sich vor dem 1:0 dann aber einfach mal selbstständig gemacht.
In der zweiten Hälfte kommt jedoch Unordnung ins deutsche Spiel. "Die Belgier haben in der zweiten Halbzeit ein richtig gutes Spiel und uns das Leben schwer gemacht", erinnert sich Hrubesch. Und plötzlich läuft François van der Elst alleine auf das deutsche Tor zu. Er wird zwar von Uli Stielike vor dem Strafraum gefoult. Doch es gibt trotzdem Elfmeter. Vandereycken verwandelt (75.).
Die Deutschen finden zurück ins Spiel. Dann gibt es einen Eckball für die DFB-Elf, und der Legende nach soll der ausführende Rummenigge einem nahe der Eckfahne sitzenden Fotografen gesagt haben: "Stell deine Linse auf den Hrubesch scharf, der macht jetzt das Kopfballtor." Und der Hrubesch macht jetzt - hoch springend, kräftig einnickend - tatsächlich ein Kopfballtor. Nach einem eingeübten Standard.
Rummenigge habe den Auftrag gehabt, den Ball über den ersten Gegenspieler zu spielen, erzählt Hrubesch. Dahinter solle ein Loch bleiben - das für ihn reserviert gewesen sei. Der Plan geht auf. In der 89. Minute. Die Entscheidung ist gefallen. Durch den "kopfballstarken Mann, den sie das Ungeheuer nennen. Wie ich meine ein bisschen geschmacklos, aber bitte schön", fällt Dieter Kürten am ZDF-Mikrofon ein. Für Hrubesch ist die Nacht von Rom der internationale Durchbruch: "Zwei Tore im EM-Finale - was für ein Traum."
Das Tor, der Sieg, der EM-Titel
Das Tor, der Sieg, der EM-Titel - "das war ein großer Glücksmoment. Vor allem, weil es eine Minute vor Schluss passiert ist. Ich habe gewusst, dass wir es gepackt haben." Eine Sache sei ihm danach besonders wichtig gewesen: "Dass ich jetzt endlich zu meinem Opa gehen und ihm sagen konnte, dass ich Europameister bin. Er hat immer zu mir gesagt: »Sei stets tüchtig, und du wirst sehen, es zahlt sich aus.« Er hat mich nach dem Erfolg auf dem Boden gehalten. Schon vor der EM hat er zu mir gesagt: »Du hast eine Riesenchance. Nutze sie.«" Das alles seien Dinge, "die mich im Leben geprägt haben, an die ich auch heute noch immer denke".
Schlusspfiff. Die erste Spontanparty auf dem Platz steigt im Fünfmeterraum bei Toni Schumacher. Er hat mit großem Einsatz, Risiko und Betäubungsspritze gespielt (gesetzt von seinem eingeflogenen Arzt): Mittelhandbruch, passiert ist es im Abschlusstraining. Gesagt hat er nichts. Kapitän Bernard Dietz fällt im Moment des Triumphs ganz plötzlich ein, dass er noch einen Job zu erledigen hat. "Mir schießt es in den Kopf: Du musst gleich die Tribüne hoch." Siegerehrung. Dietz bekommt den Pokal als Erster, Hrubesch als Dritter, und er denkt sich dabei: "Der ist verdammt schwer. Ich war so kaputt, ich konnte das Ding kaum noch in die Luft stemmen. Da gingen immer die Arme runter."
Nach dem Spiel muss Hrubesch viel erzählen, die internationale Presse möchte alles von ihm wissen. Zwei Stunden gibt er "gefühlt Hunderte von Interviews". Als er zurück in die Kabine gehen will, um sich umzuziehen, ist sie abgeschlossen. Die Kollegen haben das Stadion schon verlassen und seine Sachen mitgenommen. Im Hotel hat sich Hrubesch rasch umgezogen. Doch das Bankett lief schon, Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte seine Rede bereits gehalten. "Das Fest war fast schon vorbei", sagt Hrubesch. Doch ein bisschen was geht noch an jenem Abend im "Holiday Inn" an der Via Aurelia Antica. Bis sechs Uhr wird gefeiert. Hrubesch ist dabei.
Zehn Jahre später bejubelt wieder eine deutsche Elf einen Final-Sieg in Rom. 1990 wird sie im Stadio Olimpico sogar Weltmeister.