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Kommentar zur EM 2016 Fußball-EM: Auch Party-Patriotismus ist eine Form von Nationalismus

Von Dominik Mai 13.06.2016, 16:10
Deutschland, ein Fahnenmeer - wie hier auf der Fanmeile am Brandenburger Tor in Berlin.
Deutschland, ein Fahnenmeer - wie hier auf der Fanmeile am Brandenburger Tor in Berlin. imago stock&people

Da sind sie wieder, die schwarz-rot-gelben Flaggen an Balkonen, Autos und in so gut wie allen Schaufenstern der Stadt. Und die Freunde und Kollegen, die ständig nur über Fußball reden. Seit die Europameisterschaft in Frankreich begonnen hat, gibt es kein Entrinnen mehr.

Kaum jemand, der sich nicht mitreißen lässt. Selbst ansonsten vernünftige Menschen setzen sich einen Deutschland-Hut auf, schminken ihr Gesicht in den Nationalfarben und jubeln hysterisch beim Public Viewing. Plötzlich sind alle fußballverrückte Hobby-Jogis und analysieren – ob sie Ahnung haben oder nicht – die Bewegung jedes Spielers. Wer sich nicht dafür interessiert, ist raus.

Harte Zeiten für einen wie mich. Ich mag Fußball nicht. Mochte ich noch nie. Als in der Schule alle kicken wollten, hatte ich keine Lust. Als Freunde die EM oder WM zusammen im Fernsehen verfolgen wollten, blieb ich zuhause. Für mich ist Fußball vor allem eins: Langweilig. 22 verschwitzte Männer laufen hinter einem Ball her? Ich habe noch nie verstanden, warum man den armen Kerlen nicht 22 Bälle gibt. Und nicht mal auf einem noch so großen Fernseher oder einer Leinwand ist der kleine Ball richtig zu erkennen. Tore fallen, im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten, kaum.

Der Deutschland-Hype ist immens

Ich weiß, ich bin mit dieser Meinung in der Minderheit. Der Deutschland-Hype ist immens. Wer während eines Spiels der Nationalelf eine Kneipe sucht, in der man ungestört von grölenden Fußball-Fans etwas trinken kann, schaut wahrlich in die Röhre.

Rücksicht auf Fußballmuffel gibt es nicht – stattdessen Tröten, die mich abends vom Sofa reißen, wenn ein Tor gefallen ist und hysterische Fans, die mit ihrem Autokorso den Kudamm blockieren. Radfahrer, Autofahrer und Fußgänger müssen die Gegend rund um das Brandenburger Tor fünf Wochen lang auf zeit- und nervenraubenden Umwegen umrunden, weil der gesamte östliche Tiergarten mit einem hohen Metallzaun abgesperrt ist - damit auf der Fanmeile ausgelassen gejubelt werden kann.

Auch die Politik weiß die Euphorie auszunutzen. Während Deutschland einem kleinen Ball auf der Leinwand beim Public Viewing hinterherjagt, winkt der Bundestag unbequeme Gesetze durch: Im Schatten großer Fußball-Turniere wurde etwa die Mehrwertsteuer erhöht (WM 2006), der Krankenkassenbeitrag angehoben (WM 2010) oder das später wieder gekippte Meldegesetz beschlossen (EM 2012). Im kollektiven Fußball-Wahn gehen diese Entscheidungen scheinbar unter.

Unterwäsche in schwarz-rot-gold

Am meisten stören mich jedoch die omnipräsenten Nationalfarben, die jedes Mal mit einer Welt- oder Europameisterschaft einhergehen. Mit der WM 2006 ist es plötzlich schick geworden, sein Auto, seinen Balkon und sich selbst mit dieser Deko zu „deutschen“.

Neben der Deutschland-Schminke werden passende Hawaiiketten, Perücken, Hüte, Deutschland-Kontaktlinsen, ja sogar Unterwäsche mit schwarz-rot-goldenem Bund und der Aufschrift „Deutschland“ angeboten.

Das schwarz-rot-goldene Geschäft boomt, der Deutschland-Hype nimmt teil skurrile Formen an: Es gibt Toiletten-Papier mit Fußball-Motiven und selbst Klobürsten und WC-Reiniger kleiden sich in den Landesfarben. In Supermärkten wird das Gemüse in schwarz (Auberginen), rot und gelb (Paprika) angeordnet, daneben gibt es gefärbte Deutschland-Eier, den Weltmeister-Kartoffelsalat und die passenden Fußball-Gummibärchen.

„Schland“-Euphorie und rassistische Gewalt hängen zusammen

Natürlich macht dieses Omnipräsenz nationaler Symbolik nicht alle zu Nazis. Aber ungefährlich und harmlos ist der Party-Patriotismus nicht: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der „Schland“-Euphorie und einem Anstieg rassistischer Gewalt.

Eine Statistik des Bundesinnenministeriums zeigt, dass die Gesamtzahl rechtsextrem motivierter Delikte im WM-Jubeljahr 2006 um 14 Prozent gestiegen ist – bis dato ein neuer Höchststand. Die beiden WM-Monate wiesen Spitzenwerte auf. Aktuell sind bei der EM in Frankreich sogenannte Fans unterwegs, die mitten in der Stadt mit Reichsflagge posieren - als wäre sie ein gängiges Fan-Accessoire.

Dass die Fremdenfeindlichkeit während der großen Fußballfeste wächst, zeigen auch die Untersuchungen von Wilhelm Heitmeyer, früher Leiter des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Anhand von repräsentativen Umfragen vor und nach der Fußball-WM 2006 fanden er und sein Team heraus, dass die Deutschen nach der Weltmeisterschaft nationalistischer eingestellt waren als vorher. Und: „Die Vermutung, dass es sich dabei um eine neue, offene und tolerantere Form der Identifikation mit dem eigenen Land handelt, lässt sich nicht bestätigen.“

Vaterlandsliebe und Nationalstolz

Das hat auch die Berliner Sozialpsychologin Dagmar Schediwy herausgefunden, als sie während vergangener Turniere Anhänger der deutschen Nationalelf auf den Fanmeilen befragte. In ihrem Buch „Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold?“ stellt sie fest: Um Party und Spaß geht es den meisten nicht. Motive der Fans sind ausdrücklich Vaterlandsliebe und Nationalstolz.

Der Stolz auf die eigene Mannschaft sei mit der Abwertung anderer Gruppen verbunden, sagt Schediwy: „Der Party-Patriotismus ist eine Form des Nationalismus.“ Es sei in dieser Zeit völlig legitim, andere Mannschaften und Länder zu beschimpfen. Das geht sogar so weit, dass sich Fans gegnerischer Teams blutige Auseinandersetzungen liefern, wie am ersten EM-Wochenende in Marseille vor dem EM-Spiel zwischen England und Russland.

Wer Kritik übt, gilt als Spielverderber

Doch wer Kritik übt am Fahnenschwenken und der steigenden Fremdenfeindlichkeit wie die Grüne Jugend Berlin vor wenigen Tagen, muss mit Gegenwind rechnen: „Wer die fröhlichen Fans, die unsere Mannschaft anfeuern, unter Rassismusverdacht stellt, outet sich als intoleranter und verbohrter Spielverderber“, antwortete der Generalsekretär der CDU Berlin, Kai Wegner, promt auf seiner Facebook-Seite.

Dabei gibt es unter anderem in Sozialen Netzwerken zahlreiche nationalistische Ausbrüche, die etwa auf der Facebook-Seite „Schland-Watch“ gesammelt werden. Auch das „Netz gegen Nazis“ dokumentiert rassistische Beleidigungen und gewalttätige Übergriffe am Rande von Public-Viewing-Veranstaltungen.

Die rassistischen, rechtsextremen und antisemitischen Vorkommnisse rund um das WM-Finale 2014 lassen einen erschaudern. „Sieg Heil“-Sprechchöre sind inzwischen offenbar deutschlandweit nahezu selbstverständlicher Teil des „Fußballfestes“. Anzeichen, dass es ausgerechnet bei dieser Europameisterschaft – im Jahr nach Pegida und in Zeiten, in denen fast täglich Flüchtlingsunterkünfte angegriffen werden – anders wird, gibt es nicht. Vielmehr werden Rechtspopulisten wie die AfD die schwarz-rot-goldene Bühne für ihre Parolen nutzen.

Ich freue mich, wenn spätestens am 11. Juli, am Tag nach dem Finale, der Fußball- und Deutschland-Hype wieder vorbei ist. Wenn das Gemüse nicht mehr in Landesfarben sortiert ist. Und wenn bei Freunden und Kollegen der schwarz-rot-goldene Nagellack abgeblättert, die Deutschland-Schminke verlaufen und das Fußball-Toilettenpapier aufgebraucht ist.