EM 1996 EM 1996: Das Goldene Tor zum Titel

Im zweiten Obergeschoss des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund ist in einer Vitrine die Sportkleidung ausgestellt, die Oliver Bierhoff getragen hat, als er die deutsche Nationalmannschaft zu ihrem bisher letzten Europameisterschafts-Titel geköpft und geschossen hat. Weißes Trikot, Nummer 20, gewaschen, dazu die schwarze Hose und seine sehr benutzt aussehenden Schuhe - "ungeputzt", gibt Bierhoff zu. In seinem Keller daheim in München hat er all das gefunden, und es dem Museum schließlich als Dauer-Leihgabe zur Verfügung gestellt. Bierhoff (48), damals Stürmer und seit Sommer 2004 Manager der Nationalmannschaft, ist nun also Teil einer Ausstellung in einer fußballhistorischen Sammlung. "Das ist schön", erzählt er im Gespräch mit dem "Kölner Stadt-Anzeiger" in einer Tribünenlandschaft des Museums. Und es zeige, dass er "etwas bewirkt hat, den Menschen etwas gegeben hat - und das erfüllt mich schon mit Stolz".
Etwas bewirkt für den deutschen Fußball hat Bierhoff im konkreten Fall vor 20 Jahren, am 30. Juni 1996, ein Sonntagabend. Es passiert in Wembley, Englands wichtigstem Stadion. 2:1 gewinnt die deutsche Nationalelf damals im Finale gegen Tschechien, sie wird zum dritten Mal Europameister, und Bierhoff erzielt beide Tore. Als Einwechselspieler, der vor dem Endspiel innerlich schon abgeschlossen hat mit dem EM-Turnier 1996 in England. Weil er lange ignoriert wird und kaum spielen darf, dann aber doch gebracht wird und "das Spiel meines Lebens" erlebt. Diese Erfahrung hat Bierhoff geprägt, und hin und wieder vermittelt er sie auch heute noch den Spielern von Bundestrainer Joachim Löw: "Es reichen eigentlich 30 Minuten. Es ist verrückt. Es ist Wahnsinn."
92 Minuten Einsatz bis zum Finale
Für die deutsche Mannschaft fügen sich die Dinge von Beginn an in England. 2:0 gewinnt sie ihr Auftaktspiel - ebenfalls gegen Tschechien. Die Tore erzielen Christian Ziege und Andreas Möller. Bundestrainer Berti Vogts muss fast das ganze Spiel und auch danach ohne Abwehrspieler Jürgen Kohler auskommen: Innenbandriss im rechten Knie, Auswechslung in der 14. Minute, Turnier-Aus. Bierhoff wiederum kommt nur sieben Minuten zum Einsatz.
Gegen Russland darf sich Bierhoff von Anfang an zeigen, es ist erst sein siebtes Länderspiel. Er bleibt beim 3:0 ohne Torerfolg und wird nach 85 Minuten ausgewechselt. Kapitän Jürgen Klinsmann trifft doppelt, das 1:0 erzielt Matthias Sammer, der bei diesem Turnier in großartiger Form ist.
92 Minuten kommen so zunächst für Bierhoff zusammen - mehr werden es bis zum Finale nicht. Und das, obwohl das deutsche Team im Verlauf des Turniers großes Verletzungspech hat und auch Gelb-Sperren hinnehmen muss. So fehlt Bierhoff beim 0:0 im letzten Vorrunden-Match gegen Italien - das Land, in dem der Torjäger für Udinese Calcio spielt. Auch ohne ihn reicht das 0:0 zu Platz eins in der Vorrunden-Gruppe C der erstmals mit 16 Teams ausgetragenen EM-Endrunde.
Der Bundestrainer findet auch vor dem Viertelfinale gegen Kroatien eine Begründung für seinen weiteren Verzicht auf Bierhoff. Vogts habe ihm gesagt: "Er lässt Fredi Bobic spielen, weil er sagt, der hat eine kroatische Mutter und versteht die anderen Jungs ein bisschen." Mit dem Abstand von 20 Jahren sagt Bierhoff: "Berti Vogts hielt mich damals wohl nicht für bereit." Letztlich aber sei es so: "Der Trainer kann dir erzählen, was er will: Wenn du nicht spielst, sieht er jemand anderen besser."
Kein Ende der Verletzungen in Sicht
Gegen Kroatien gewinnt Deutschland mit 2:1, Klinsmann und Sammer treffen. Kroatiens Trainer Miroslav Blazevic fällt vor dem Spiel durch eine skurrile Ansicht auf: "Uns steht ein Krieg auf Leben und Tod bevor. Gegen die deutschen Stukas und Messerschmidts werden wir mit Kamikazefliegern antreten." Entsprechend hart wird dieses Match von Blazevics Spielern geführt.
Das Verletzungspech entwickelt sich nun zu einem großen Thema: Kohler ist längst schon nicht mehr verfügbar, mit ihm ist auch Mario Basler abgereist, der sich vor dem Russland-Spiel eine Knöchel-Verletzung zuzieht. Nach der Partie gegen die Kroaten fallen auch die Stürmer Bobic (Schulter ausgekugelt, eine Operation ist nötig) und Klinsmann aus. Der Kapitän muss nach 39 Minuten vom Feld: Muskelfaserriss in der rechten Wade - sieben Tage vor dem Finale droht auch er auszufallen.
Und dennoch bleibt Bierhoff, der große, wuchtige, kopfballstarke Spieler im Halbfinale von Wembley gegen England draußen. Es spielt Stefan Kuntz als einzige Spitze. Bierhoff stellt für sich selbst fest: "Ich habe mir gesagt: Jetzt kommt gar nichts mehr. Für dich persönlich brauchst du nichts mehr zu erwarten." Wut habe er schon empfunden, aber keinen Hass oder ein Gefühl, der Trainer wolle ihn besonders ärgern. Dafür, sagt er, "hatte ich Berti Vogts viel zu viel zu verdanken".
Deutschland gewinnt den Krimi von Wembley. Kuntz erzielt nach 16 Minuten das 1:1, doch Tore fallen erst wieder im Elfmeterschießen. Vogts' Mannschaft setzt sich durch, 6:5, Englands Gareth Southgate scheitert als Einziger, Deutschlands Torhüter Andreas Köpke pariert. Die deutsche Elf steht im Finale, zum fünften Mal bereits bei einem EM-Turnier.
Die Situation im deutschen Kader nimmt vor dem Finale heftige Züge an. Während des Halbfinales bekommt das DFB-Lazarett einen neuen Patienten: Steffen Freund erleidet einen Kreuzbandriss im linken Knie. Thomas Helmer, Marco Bode und Christian Ziege gehen angeschlagen aus der Partie - werden aber, wie auch Klinsmann, bis zum Finale wieder fit. Nicht spielen können jedoch die nach dem England-Spiel gesperrten Stefan Reuter und Andreas Möller.
Zwei Tage vor dem Endspiel trainiert Vogts mit nur noch acht gesunden Feldspielern. Die ausrichtende Europäische Fußball-Union gestattet letztlich sogar die Nachnominierung von Jens Todt - doch in den Kader schafft er es nicht mehr, weil im Finale dann doch mehr als die erforderlichen zwölf Feldspieler spielen können.
Totale Lockerheit für das Finale
Bierhoff erlebt das Finale von Wembley - erneut geht es gegen den Auftaktgegner Tschechien - zunächst auf der Bank, auf der neben ihm nur noch die Feldspieler Marco Bode und René Schneider sitzen. Denn Klinsmann kann und darf spielen. Bierhoff rechnet nicht mit einem Einsatz: "Ich war davon überzeugt, dass wir gewinnen werden. Dass wir in Führung gehen werden. Und ich wusste, dass Berti Vogts kein Trainer war, der dann einen Stürmer bringt." Bode kommt zur Halbzeit ins Spiel, weil Dieter Eilts wegen eines Innenbandrisses im linken Knie nicht mehr weiterspielen kann - noch ein Verletzter mehr. Tschechien geht in Führung, Patrik Berger verwandelt einen Elfmeter (59.), Sammer hat zuvor den Tschechen Poborsky gefoult - allerdings knapp außerhalb des Strafraums. Jetzt erst erinnert sich Vogts an Bierhoff, den er schließlich in der 69. Minute einwechselt. Dritter Turniereinsatz, achtes Länderspiel. Vier Minuten später trifft der Eingewechselte schon.
In dem Moment, als er den Rasen von Wembley betritt, spürt Bierhoff "eine totale Lockerheit, die nicht typisch für mich ist". Und dann wird es ernst, Freistoß von Christian Ziege aus halbrechter Position, den er mit links in den Strafraum spielt. Bierhoff erzählt: "Ich kann mich von meinem Gegenspieler lösen. Ich bin nah am Tor, der Ball kommt, und irgendwie wusste ich: Der ist für mich." Bierhoff bekommt den Kopfball, nickt ein. Tor. 1:1.
Er sagt: "Als der Ball im Netz war, spürte ich pure Freude und Erleichterung - und schon war ein Gedanke da: Als Stürmer willst du Spiele entscheiden. Bleib dran! Und auch dieser Gedanke schwirrte mir im Kopf herum: Es hat sich gelohnt, ruhig zu bleiben, keinen Stunk zu machen."
Bis zum Abpfiff der regulären Spielzeit fällt kein Tor mehr. Es gibt Verlängerung, damals noch nach dem Modus des "Golden Goal" ausgespielt: Wer zuerst in der vorgeschriebenen Zeit (zwei Mal 15 Minuten) trifft, egal wann, hat gewonnen, weil das Spiel anschließend sofort beendet ist. Fällt kein Tor, gibt es Elfmeterschießen.
Dazu kommt es nicht. Denn in der 95. Minute steht Bierhoff wieder richtig: "Langer Ball von Thomas Helmer. Ich verlängere ihn erst auf Jürgen Klinsmann nach außen. Und der flankt von rechts nach innen, relativ lasch, ich nehme den Ball mit dem Rücken zum Tor an und will ihn mir auf rechts legen. Doch dann ruft Marco Bode: »Andersrum«. Ich habe mich daraufhin tatsächlich andersherum gedreht - und einfach abgezogen, ohne zu überlegen." Der Ball wird leicht abgefälscht und rutscht Torhüter Kouba über die Hände ins Tor. Golden Goal, das erste bei einem großen Turnier. 2:1. Das Spiel ist aus, Deutschland Europameister. Dank Bierhoff, dem bisher übersehenen Stürmer.
Mit Teamgeist zum Titel
Die Entscheidung "habe ich wie in Zeitlupe wahrgenommen. Dann der Jubel. Es werden immer unvergessliche Momente bleiben." Bierhoff zieht sich das Trikot vom Leib - "das habe ich weder vorher noch hinterher in meiner Karriere gemacht". Gewundert habe er sich deshalb über sich, zumal er "übertriebenen Jubel nicht immer so gut" findet, "aber ich denke, in dieser Situation habe ich viel Ballast und Frust abgeworfen".
Vogts, der sich noch vor der Pokalübergabe dreimal vor den Fans verbeugt, hat seiner Mannschaft während ihrer England-Mission immer wieder einen Satz mit auf den Weg gegeben: "Der Star ist die Mannschaft." Teamgeist und mannschaftliche Geschlossenheit sind die Schlagworte, die Vogts bei seiner EM-Kampagne in den Mittelpunkt gestellt hat. Neben dieser "Geschlossenheit" habe laut Bierhoff vor allem auch die "Entschlossenheit, in England gewinnen zu wollen" im Team der reifen Spieler für den nötigen Schub gesorgt (Sammer ist damals fast 29, Klinsmann, Köpke, Kohler, Helmer, Eilts, Kuntz und Thomas Häßler sind bereits über 30).
Bierhoff hatte seinen persönlichen Schub letztlich ganz offensichtlich auch Monika Vogts zu verdanken, der Gattin des Bundestrainers. Die Eheleute Vogts haben Bierhoff vor der EM in Udine besucht - und letztlich, so geht die Legende, habe Monika Vogts ihrem Mann auf die Frage geantwortet, wen er von den in Frage kommenden Stürmern Kirsten, Herrlich, Riedle oder Bierhoff mit zur EM nehmen solle, geantwortet: "Nimm den Oliver, er wird es dir eines Tages danken." Gesprochen habe er darüber nie mit Vogts, sagt Bierhoff.
Dass ihm die beiden Tore im Finale gelungen sind, dass er einen großen Moment der deutschen EM-Geschichte geprägt hat - dafür ist Bierhoff "sehr dankbar. Fußballerkarrieren werden letztlich ja auf drei, vier Bilder reduziert. Bei mir ist es ein Bild, an das die Leute sich gerne erinnern". Und auf das sie nun ja auch, ganz plastisch und ansehnlich, durch seine Final-Ausrüstung im Dortmunder Museum hingewiesen werden.