DFB-Elf vor WM-Finale gegen Argentinien DFB-Elf vor WM-Finale gegen Argentinien: Kurz davor, endlich Helden zu werden

Eine Heldengeschichte ist nur dann eine Heldengeschichte, wenn die Helden der Geschichte nicht schon als Helden erwartet werden, bevor die Geschichte erzählt wird. Eine weitere Grundlage ist natürlich der Erfolg der Helden, und auch die Charakteristika des Weges dorthin. Nehmen wir beispielsweise den Gewinn einer Fußball-Weltmeisterschaft: Das ein oder andere Hindernis lässt einen solchen Triumph retrospektiv noch deutlich heroischer erscheinen als ein felsenfreier Pfad, der ohne große Herausforderung zur Entgegennahme des Pokals geführt hat.
Keine Frage also – die deutsche Mannschaft erfüllt alle Voraussetzungen, Protagonist einer solchen Heldensaga zu sein.
Sie galt zwar als ein, nicht aber als der Favorit auf den Titel. Zumal sie mit so vielen negativen Erscheinungen zu kämpfen hatte, dass trotz des nur so vor hochtalentierten jungen Männern überquellenden Aufgebots keineswegs damit zu rechnen war, der DFB-Elf würde ein Durchmarsch zum Triumph gelingen. Schließlich war auch die Liste der Konkurrenten ursprünglich lang – man denke nur an die Spanier, die Italiener oder die Engländer, die allesamt nach der Gruppenphase heimgereist sind.
Jene eingangs erwähnte Faktoren, die eine Heldengeschichte ausmachen, stehen in direktem Zusammenhang. Es war eben auch die von ungünstigen Ereignissen dominierte Vorbereitung, die die Hoffnungen auf den Titelgewinn der Nationalmannschaft hierzulande vehement gedämpft haben.
Die verletzten Leistungsträger Manuel Neuer, Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger. Der Autounfall mit zwei Verletzten während eines PR-Termins im Trainingslager. Das enttäuschende 2:2 im Testspiel gegen Kamerun. Der Bundestrainer, der seinen Führerschein verliert. Kevin Großkreutz, der in eine Hotellobby pinkelt. Im letzten Testspiel dann Marco Reus, der sich verletzt und seine Teilnahme absagen muss. Das Mannschaftsquartier wurde erst im letzten Augenblick fertig, und schließlich blieb auch noch der Mannschaftsbus bei der Ankunft in Santo André auf der Fähre hängen. „Chaos-Vorbereitung“, haben manche Medien getitelt. Tatsächlich: Die Vorzeichen waren nicht sonderlich vielversprechend. Die Sorgen vor den klimatischen Bedingungen in Brasilien nicht zu vergessen.
Es folgte eine sportliche wie emotionale Achterbahnfahrt. Das furiose 4:0 zum Auftakt gegen Portugal, begünstigt durch allerlei Einflüsse des Schiedsrichters. Der kaum überzeugende Auftritt beim 2:2 gegen Ghana. Die ordentliche Leistung beim 1:0 gegen die USA. Die im letzten Moment abgewendete Blamage gegen Algerien im Achtelfinale. Und der souveräne 1:0-Sieg gegen Frankreich im Viertelfinale.
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Spätestens nach diesem Spiel war klar: Der Titelgewinn ist realistisch. Denn spätestens nach diesem Spiel war ebenfalls klar: Nicht nur die Mannschaft hat sich im Gegensatz zu den zurückliegenden Turnieren entwickelt, sondern auch und vor allem der Bundestrainer. Er hat dazugelernt, sowohl vor als auch während des Turniers. Schon vorab hatte ihm gedämmert, dass der von ihm so geliebte, der dynamische, dominante und schnelle Offensivfußball unter der Sonne Brasiliens schwer umzusetzen sein würde.
Er hat seine Mannschaft umgestellt, defensiver ausgerichtet, den Schwerpunkt verschoben. Kompakt und effektiv statt rasant, riskant und attraktiv. Im richtigen Moment hat er zudem alle Thesen über seine angebliche Sturheit pulverisiert, als er Philipp Lahm vor dem Spiel gegen Frankreich auf die Rechtsverteidigerposition zurückbeorderte. Im Nachhinein wirkt das, was zunächst als abhanden gekommene Kunst interpretiert wurde, wie die Kalkulation, mit den Umständen angepasstem und auf die Fähigkeiten des Teams zugeschnittenem Aufwand eine Menge zu erreichen. Löws Turnierplan ist aufgegangen, ein Kollege hat es dieser Tage in der Print-Ausgabe des "Kölner Stadt-Anzeiger" treffend als das „Meisterstück“ des 54-Jährigen bezeichnet.
Das alles wäre freilich nicht möglich gewesen ohne eine Mannschaft, die an die Ideen des Trainers glaubt, und die tatsächlich als Mannschaft auftritt. Ganz im Gegensatz zu Argentinien übrigens – beim Finalgegner herrscht neben Lionel Messis Diktatur eine ungesunde Anarchie vor. Die Deutschen aber haben sich geschlossen präsentiert. Keine Spur von Alphatieren oder schädlicher Hierarchie, Allüren der Ersatzspieler oder großer Rivalität. Sie mögen nun schmunzeln, aber der Selfie-aus-der-Kabine-veröffentlichen-Wahn kommt nicht von ungefähr. Diese Spieler verstehen sich so gut, wie es auf den Bildern aussieht, und sie stellen die Interessen des Gesamtprojekts über ihre eigenen.
Und spektakulär war es ja sogar auch noch. Anders als bei der letzten Final-Teilnahme im Sommer 2002 hat die DFB-Elf jetzt andere hoch gehandelte Teams wie Portugal und Frankreich ausgeschaltet. Mit dem kaum zu beschreibenden 7:1-Sieg gegen den Gastgeber Brasilien hat sie den Geschichtsbüchern des Fußballs zudem schon im Halbfinale ein neues Kapitel hinzugefügt. Eines, von dem die Menschen noch in Jahrzehnten sprechen werden.
Natürlich wäre der Weg ins Finale letztlich auch egal, wenn sich die DFB-Elf – wie vor zwölf Jahren – mit viel Willen und noch mehr Glück dorthin gemogelt hätte. Was zählt, ist schließlich, am Sonntag um 21 Uhr unserer Zeit im Estádio do Maracanã in Rio de Janeiro auf dem Rasen stehen zu dürfen und die Möglichkeit zu haben, als erste europäische Auswahl aller Zeiten eine WM in Südamerika zu gewinnen.
Dennoch: So souverän und kalkuliert, wie es die deutsche Mannschaft – von der ersten Halbzeit gegen Algerien einmal abgesehen – ins Endspiel geschafft hat; so sehr, wie sie sich während des Turniers gesteigert hat; so klug, wie Bundestrainer Joachim Löw in den richtigen Augenblicken reagiert hat, kann es nur einen angemessenen Ausgang dieser Geschichte geben. Und das ist eine letzte Episode, in der die Spieler sich und ihren Trainer mit einem Sieg im Finale zu Helden machen.
