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Bierdosen und Steine flogen DDR-Oberliga FC Sachsen Leipzig - Carl Zeiss Jena 1990: Spielabbruch nach Gewalt-Eskalation

22.07.2020, 13:55

Leipzig - Für Siegfried Kirschen war es zunächst ein Spiel wie jedes andere. Der FIFA-Schiedsrichter war in seinem Lada nach Leipzig gefahren, zog sich sein schwarzes Outfit mit weißem Kragen an und pfiff im damaligen Georg-Schwarz-Sportpark die Partie zwischen dem FC Sachsen Leipzig und dem FC Carl Zeiss Jena an.

Die Gäste gingen an diesem 29. September 1990 nach 56 Minuten durch Carsten Klee in Führung und es sah alles nach einem knappen Auswärtssieg am sechsten Spieltag der DDR-Oberliga aus. So weit, so unaufgeregt. Doch dann kam die 83. Minute.

Tor von Sachsen Leipzig aberkannt: Zuschauer im Georg-Schwarz-Sportpark rasten aus

„Es gab einen Freistoß für Sachsen Leipzig, etwa 20 bis 25 Meter vor dem Tor. Ich bin also in Richtung Strafraum, um die Mauer zu stellen“, erinnert sich Kirschen im dpa-Gespräch. „Doch plötzlich wurde der Freistoß ausgeführt, ohne dass ich das Spiel freigegeben hatte. Und der Ball landete im Tor. Ich musste das Tor aberkennen. Das war der Punkt, an dem einige Zuschauer ausgerastet sind.“

Es flog so ziemlich alles aufs Feld, was auf der Tribüne gerade greifbar war. Bierdosen, Steine, Holzteile. „Ich habe das eine Weile beobachtet, aber die Lage beruhigte sich nicht. Das Spiel musste abgebrochen werden. Ich hätte es mir gerne erspart, aber es ging nicht anders“, sagt Kirschen. Es war das einzige Spiel der Oberliga-Geschichte, was abgebrochen werden musste.

Für Kirschen war es eine Premiere im letzten Jahr. Der heute 76-Jährige war zuvor bei der WM in Italien im Einsatz. Aufgrund der Strukturanpassung an den DFB wurde der Landesverband Brandenburg gegründet. Man trat an Kirschen, der in Frankfurt/Oder Vorsitzender der Schiedsrichterkommission war, mit der Bitte heran, das Präsidentenamt zu übernehmen.

Wende-Saison in der DDR: Ausschreitungen unter Fußball-Fans

„Das war für mich ein schöner Übergang in die Funktionärslaufbahn. Aber ich wollte nicht plötzlich aufhören und habe gesagt, ich hänge noch eine Saison dran“, erklärt der studierte Psychologe.

So erlebte er eine historische Saison hautnah. Unter den Clubs gab es ein Hauen und Stechen um die begehrten Plätze in den beiden Bundesligen. Unter Anhängern kam es vermehrt zu Ausschreitungen, was laut Kirschen nicht unbedingt etwas mit dem Schicksal ihrer Clubs zu tun hatte. „Ich hatte den Eindruck, dass dort die neue Freiheit missverstanden worden war. Einige haben geglaubt, sie können tun und lassen, was sie wollen.“

Seine Entscheidung, den Treffer nicht zu geben, würde Kirschen heute genauso treffen. Auch unter den Funktionären des FC Sachsen herrschte Einsicht. Unter einigen der 5500 Zuschauer weniger. Als Kirschen wieder nach Hause fahren wollte, waren die Reifen an seinem Auto zerstochen. „Der Geschäftsführer des FC Sachsen hat sich umgehend entschuldigt und mich sogar nach Hause gefahren“, berichtet Kirschen. Einige Tage später stand der Wagen wieder repariert vor der Haustür.

Skandal beim FC Sachsen Leipzig: Trainer Jimmy Hartwig beleidigt Schiedsrichter Kirschen und wird entlasse

Das wohl bekannteste Nachspiel gab es am Abend nach dem Spiel im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF. Dort legte Sachsen-Trainer Jimmy Hartwig einen legendären Auftritt hin. „Ich hatte Schiedsrichter Kirschen im Fernsehen als kleines Schweinchen bezeichnet“, sagte Hartwig einige Jahre später. Es war sein letzter Auftritt als Trainer, er wurde umgehend entlassen. Die Begegnung wurde mit 0:2 gewertet und der FC Sachsen mit einer Platzsperre von einem Spiel belegt.

Für Kirschen war Hartwig damals „eine Persönlichkeit, die differenziert zu betrachten war“. Vor sieben Jahren traf man sich zufällig wieder. Im Schlosspark von Neuhardenberg kickte die Autoren-Nationalmannschaft gegen frühere Auswahlspieler. Kirschen pfiff die Partie, Hartwig war ebenfalls anwesend. Man kam ins Gespräch.

Der Abbruch war zwar kein Thema, doch Kirschen änderte seine Meinung über Hartwig: „Rein menschlich hat er eine außerordentlich positive Entwicklung genommen. Sein Auftreten und sein soziales Engagement sind bemerkenswert.“ (dpa)