Ausverkauf des DDR-Fußballs? Ausverkauf des DDR-Fußballs?: Wie Reiner Calmund Andreas Thom in den Westen lockte
Leverkusen/Berlin - 30 Jahre nach dem Mauerfall hat Reiner Calmund seine legendäre Einkaufstour in der Schlussphase der DDR verteidigt. Der langjährige Manager und Geschäftsführer von Bayer Leverkusen behielt im Trubel der Wendezeit kühlen Kopf und lotste mit teils abenteuerlichen Methoden die ersten Ost-Fußballer in die Bundesliga.
„Wenn wir nicht zugeschlagen hätten, wären die Spieler woanders hingegangen. Sie wollten raus“, sagte Calmund anlässlich des Jubiläums dem SID. Vor allem Italiens Top-Klubs hatten ihre Fühler ausgestreckt, doch Calmund setzte sich durch. „Sie wollten lieber in der Bundesliga spielen, die kannten sie aus den wöchentlichen TV-Übertragungen“, erinnerte sich der XXL-Manager.
Wie Reiner Calmund Andreas Thom nach Leverkusen lockte
Besonders begehrt war Andreas Thom. Der technisch begnadete Stürmer des DDR-Seriensiegers BFC Dynamo galt als schüchtern, war aber am Ball brillant. Am 12. Dezember, nur gut vier Wochen nach dem Zusammenbruch der DDR, stellte Bayer Thom auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin als ersten Bundesligatransfer aus der DDR-Oberliga vor.
„Wir waren einfach schneller“, sagte Calmund, der auch seine damaligen Kontrahenten Uli Hoeneß (Bayern München) und Willi Lemke (Werder Bremen) ausstach. Direkt nach dem Mauerfall hatte „Calli“ seinem Team in Leverkusen die Strategie eingetrichtert. „Wir müssen uns um die Spieler kümmern“, hatte der Manager gemeint und seinem Mitarbeiter Wolfgang Karnath einen besonderen Auftrag erteilt.
Sechs Tage nach dem Mauerfall spielte die Auswahlmannschaft der DDR in der WM-Qualifikation in Wien gegen Österreich. Calmund schleuste Karnath mit einer Foto-Akkreditierung und silbernem Koffer ins Stadion. Karnath schaffte es an dem Abend bis auf die Ersatzbank der DDR-Auswahl und nahm Kontakt auf. Noch aus dem Prater-Stadion rief der Chefunterhändler seinen Chef an: „Calli, die Drähte glühen.“
Stasi hatte die Wohnung von Andreas Thom verwanzt
Karnath hatte die Adresse der Thoms besorgt. Sie wohnten in einer Plattenbauwohnung am Alexanderplatz. Calmund reagierte schnell, einen Tag später stand er mit Blumen und Pralinen für die Gattin in Thoms Wohnung. „Calli war damals unheimlich schnell“, erinnerte sich der umworbene Kicker später.
Thom war nervös, die Stasi hatte die Wohnung verwanzt. Calmund konnte ihn beruhigen. „Andreas, das hier wird eine ganz offizielle Sache“, sagte er laut und deutlich, so, dass auch die Stasi hinter der Tapete mithören konnte: „Ich möchte von dir nur wissen, ob du dir vorstellen kannst, für Bayer Leverkusen zu spielen.“
Thom konnte es sich vorstellen und wechselte für rund drei Millionen DM zum Werksklub. Der DDR-Stürmer verdiente bei Bayer monatlich 12.000 DM brutto, plus Auflauf- und Siegprämie. Zu den gleichen Konditionen unterschrieben zwei Tage später auch Ulf Kirsten und Matthias Sammer. Mit rund 500.000 DM pro Jahr gehörten die Neuen aus dem Osten zu den Topverdienern bei Bayer, die Summen wurden durch die Explosion der TV-Gelder möglich.
Bei Matthias Sammer schaltete sich Helmut Kohl ein
Doch plötzlich kam das Veto von ganz oben. Bundeskanzler Helmut Kohl wollte nicht, dass alle zu einem Bundesliga-Klub wechseln und teilte der Bayer-AG sein Unbehagen mit. „Sie können die DDR nicht so einfach leer kaufen“, schimpfte der Kanzler.
Der VfB Stuttgart angelte sich daraufhin Sammer. Borussia Dortmund wollte Kirsten, doch dann bekam Calmund doch noch grünes Licht und holte den Angreifer für 3,7 Millionen DM zum Werksklub. Während Thom 1995 Leverkusen verließ, spielte Kirsten bis 2014 in Leverkusen und hatte es Calmund besonders angetan: „Ulf Kirsten ist ohne Wenn und Aber mein Einkauf des Jahrhunderts. Trotz Völler, trotz Schuster, trotz Ballack, trotz aller Brasilianer.“ (sid)