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90. Geburtstag von Heinz Florian Oertel 90. Geburtstag von Heinz Florian Oertel: "Waldemar" machte ihn zum Kult-Reporter

Von Alexander Schierholz 11.12.2017, 06:00
Rundfunkreporter Heinz-Florian Oertel interviewt Berliner den Radsportler Axel Peschel 1964.
Rundfunkreporter Heinz-Florian Oertel interviewt Berliner den Radsportler Axel Peschel 1964. dpa-Zentralbild

Berlin - Zu Beginn dieser Geschichte ein kleiner Test unter Kollegen: Was fällt ihnen zu Heinz Florian Oertel ein? „Den kenn’ ich sogar persönlich“, sagt einer, „der hat in dem Fotogeschäft in Cottbus, in dem ich meine Lehre gemacht habe, immer seine Passbilder bestellt.“ - „Heinz Florian Oertel?“, fragt ein anderer: „Lebt der noch?“ Und wie! Am Montag wird er 90 Jahre alt.

Heinz Florian wer? Gut, man muss an dieser Stelle für die jüngeren Leser vielleicht etwas erklären: Heinz Florian Oertel, geboren am 11. Dezember 1927 in Cottbus, war der Star unter den DDR-Sportreportern. 17 Olympische Spiele, acht Fußball-Weltmeisterschaften, 25 Welt- und Europameisterschaften im Eiskunstlauf und noch einige Wettkämpfe mehr, Oertel, der Mann mit der sonoren Stimme und den  flotten Sprüchen, war immer dabei, im Fernsehen, im Radio.

Wie aus dem Reporter Oertel eine Reporter-Legende wurde

Was und wie schreibt man über so einen Mann? Das Naheliegende: Man könnte ihn besuchen und sich mit ihm über sein Leben unterhalten. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit: Man könnte  mit dem Mann sprechen, dem vor fast vier Jahrzehnten Oertels berühmteste Sätze galten. Sätze, mit denen aus dem Reporter eine Reporter-Legende wurde.

Tiefere Verbeugung

Moskau, 1. August 1980, Olympische Spiele. Marathonläufer Waldemar Cierpinski aus Halle holt  die Goldmedaille, zum zweiten Mal nach Montreal 1976. „Liebe junge Väter“, sprudelt es angesichts des Cierpinski-Sieges aus Oertel heraus, „vielleicht sogar angehende, haben Sie Mut, nennen Sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar! Waldemar ist da!“

Cierpinski, 67, sitzt im Büro seines Sportgeschäftes in einem Einkaufszentrum in der Innenstadt von Halle. Auf dem Tisch stehen Kekse, Kaffee und Wasser, seine Füße stecken in knallig türkisfarbenen Laufschuhen. „Am Anfang habe ich diesen Spruch überhaupt nicht gemocht“, sagt er in seiner nüchternen Art. „Für einen Marathon erschien mir das irgendwie unpassend.“ Besser gefiel Cierpinski, was Oertel 1976 ins Mikrofon gerufen hatte, beim ersten Olympia-Sieg des Hallensers: „Wir springen mit ihm auf! Und wenn man steht, ist die Verbeugung tiefer!“

Doch haften blieb: „Waldemar!“ Noch heute wird Cierpinski wöchentlich auf der Straße oder im Laden darauf angesprochen. Nervt ihn das? „Warum sollte es?“, fragt er zurück. „Das gibt mir ein gutes Gefühl. Es zeigt mir, dass die Leute sich gerne an meinen Sieg erinnern.“

Adler und Elch

Die Geschichte von Heinz Florian Oertel ist auch die Geschichte seiner blumigen Sprache - oder, wie es der Radsport-Weltmeister Täve Schur ausdrückte, seines Talents, „gekonnt großkotzig großartige Reden“ zum Besten zu geben. „Das ist kein Sprung, das ist ein Adlersturzflug!“, begeisterte sich Oertel 1962 bei der Skisprung-WM im polnischen Zakopane über die Leistung des Skispringers Helmut Recknagel. Den  finnischen Leichtathleten und vierfachen Olympiasieger Lasse Virén nannte er „Tartan-Elch“. Oertel machte die Sportreportage zum unterhaltsamen Kunstwerk. „Unterhaltung und Sport, da sah ich keinen Unterschied. Das hat sich für mich immer sehr, sehr gut ergänzt“, hat er einmal gesagt.

In einem Interview für Waldemar Cierpinskis Buch „42,195 - Auf den Spuren zweier Marathon-Olympiasiege“ hat Oertel vor kurzem geschildert, wie er zu seinen Einfällen kam: „Man darf sich nicht wiederholen, sollte sich immer wieder etwas Neues erarbeiten, auch oder gerade bei einer Live-Übertragung.“

1980 in Moskau hatte er das Lied  „Er hieß Waldemar“ von Zarah Leander vor sich hingesummt, um die Stimme zu lockern. Und plötzlich war sie da, die Idee, und musste raus.

Nach Ausflügen als Lehrer und Schauspieler am Theater in Cottbus heuerte Oertel 1949 zunächst beim Radio an, dann beim Fernsehen. Und weil Unterhaltung für ihn kein Fremdwort war, moderierte er später auch TV-Shows wie „Schlager einer großen Stadt“ oder „Porträt per Telefon“ - bei dieser ersten Live-Talkshow im DDR-Fernsehen konnten Zuschauer anrufen und Fragen stellen. In 254 Folgen interviewte Oertel Größen aus Wissenschaft, Showgeschäft und Sport.  Auch Waldemar Cierpinski saß einmal im Studio.

Nach seinem ersten Olympiasieg 1976  bekam der hallesche Leichtathlet körbeweise Post von Fans. „Den Leuten hatte mein Lauf gefallen“, erzählt er in seinem Büro in Halle, „es wurde in vielen Briefen aber auch deutlich, dass ihnen auch die Reportage gefallen hatte. Das hat mich darin bestärkt, weiterzumachen.“

Persönlich kennen gelernt haben Cierpinski und Oertel sich erst ein Jahr vorher. Oslo, 1975, Länderkampf. Im Bus vom Flughafen zum Bislett-Stadion mitten in Norwegens Hauptstadt sitzen beide zufällig nebeneinander. Eine bizarre Situation. Cierpinski steht vor einem 5 000-Meter-Lauf. „Ich wollte im Bus eigentlich meine Ruhe haben und mich innerlich auf den Wettkampf vorbereiten“, erinnert er sich. „Aber dann sitzt er da neben mir und fängt einfach an zu plaudern.“

Heinz Florian Oertels offene Art hat Waldemar Cierpinski damals beeindruckt, die Euphorie und Leidenschaft, mit der Oertel an seine Reportagen ging. Kurz: Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Wenn die Sportler-Legende Cierpinski heute von der Reporter-Legende Oertel erzählt, spricht  er oft vom „Flori“. Regelmäßig telefonieren sie miteinander.

Ortel habe sich stets nicht nur mit dem Sport beschäftigt, sondern auch mit den Menschen, die ihn ausüben, sagt Cierpinski. „Das schätze ich sehr an ihm, genau wie sein umfangreiches Fachwissen.“ Ob Leichtathletik, Fußball, Eiskunstlauf oder Radsport - Oertel sei immer präzise vorbereitet gewesen.

Der Absturz

Sein Wortwitz und seine Schlagfertigkeit ließen den Mann aus der Lausitz 17 Mal zum „Fernsehliebling des Jahres“ in der DDR werden, gewählt vom Publikum. Doch nach dem Ende der DDR folgte der Absturz: Heinz Florian Oertel war nicht mehr gefragt als Reporter und Moderator. Die Sender im wiedervereinigten Deutschland wollten ihn nicht haben. Vorwürfe tauchten auf, er haben für die Stasi gearbeitet und sei zu eng gewesen mit den Sportfunktionären. Oertel wies alles zurück und schrieb Bücher. Über Sport, aber auch über gesellschaftliche Fragen.

Seinen 90. wird er wohl zurückgezogen in Berlin begehen, wo er mittlerweile mit seiner Ehefrau Hannelore lebt. Kurz vor seinem Geburtstag hat ihn eine heftige Erkältung erwischt. Interviewanfragen per Telefon laufen ins Leere, sofort springt der Anrufbeantworter an.
Vielleicht hat Waldemar Cierpinski mehr Glück. Er hat sich vorgenommen, Heinz Florian Oertel am Telefon mit dessen einzigem Zitat zu gratulieren, das diesem Anlass angemessen ist: Er will ihm sagen, dass er aufgestanden ist, um sich symbolisch vor ihm zu verneigen: „Und wenn man steht, ist die Verbeugung tiefer!“

Waldemar Cierpinski: 42,195 - Auf den Spuren zweier Marathon-Olympiasiege, acasa Werbung & Verlag, 116 Seiten, 12,90 Euro